Kunst sehen und verstehen. Sibylle Zambon

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Kunst sehen und verstehen - Sibylle Zambon

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erklärte sie in dieser Weise dem Mädchen, dem es ebenfalls zu gefallen schien, die Handlungen. „Jetzt seht ihr“, schloss Annibale, „wie ich zu verstehen gelernt habe, welcher von unseren beiden Malern die Affekte lebendiger ausgedrückt und seine Geschichte klarer dargelegt hat.“ Bei den beiden Schülern Carraccis handelt es sich übrigens um die Maler Guido Reni und Demenichino, die im Auftrag des Kardinals Scipione Borghese (1577 – 1633) das Oratorium S. Andrea in Rom mit zwei Szenen aus dem Leben des Apostels Andreas bemalt hatten.20

      Folgen wir der Anekdote, so muss das Kunstwerk offenbar zwei Bedingungen erfüllen, um in der Betrachterin eine Reaktion auszulösen. Es muss sie innerlich bewegen, so erzählt die Frau in der Geschichte „mit Vergnügen“ und das Mädchen hört „mit Gefallen“ zu, und es muss etwas Bekanntes – hier die dargestellten Figuren – veranschaulichen. Die Betrachterin wird also auf der Gefühls- wie auf der Wissensebene „ergriffen“. Wo dies nicht geschieht – wie im Falle des ersten Bildes –, bleibt die Kunst stumm. Gewiss ist es eine Frage der Persönlichkeit, von welchen Bildern wir ergriffen sind oder welche uns gefühlsmäßig ansprechen. Ob wir dagegen Bekanntes in einem Bild erkennen können, hängt im Wesentlichen von unserem Wissen ab. Oder anders gesagt, ob wir uns in der Kultur, in der Zeit oder Epoche und in der Darstellungsweise, in der das Bild gemalt wurde, auskennen. In der gegenständlichen Malerei – also in der Malerei mit Abbildcharakter – wird uns deshalb das Erkennen von Bekanntem leichterfallen, als in moderner, nichtgegenständlicher Kunst.

      Zusammenfassung: Kunst kann als Medium aufgefasst werden, durch das ein Künstler mit seinem Publikum kommuniziert. Sie ist mit einer Universalsprache vergleichbar, die über kulturelle Grenzen hinweg Botschaften verständlich machen kann. Der talentierte Künstler wurde im Laufe der Zeit unter verschiedenen Aspekten gesehen: als der von Gott Inspirierte, der von Natur aus Geniale, der an seiner Begabung Leidende, ja sogar als Kranker und Geisteskranker. Er schafft seine Kunst in einer ihm eigenen Bildsprache. Je mehr wir als Betrachter davon verstehen, umso mehr können wir aus einem Kunstwerk lesen. Sich mit einem Kunstwerk auseinanderzusetzen, kann also für den Betrachter mit etwas Aufwand verbunden sein. Andererseits wurde gezeigt, dass auch vonseiten des Künstlers eine Aufgabe zu erfüllen ist, nämlich dem Publikum einen Schritt entgegenzukommen. Wo dies nicht oder nur ungenügend geschieht, müssen die Museen und Ausstellungsmacher eine vermittelnde Rolle übernehmen. Als Publikum haben wir zwei Möglichkeiten, auf ein Kunstwerk zu reagieren: mit dem Bauch und mit dem Kopf.

Nur keine falschen Hemmungen!

      Sie sind gefragt: Welche Haltung würden Sie beim Betrachten eines Bildes vorziehen?

      1. Vor ein Bild hat jeder sich hinzustellen wie vor einen Fürsten, abwartend, ob und was es zu ihm sprechen werde.21

      2. [Die Bilder] beunruhigen den Betrachter; er fühlt: zu ihnen muss er einen bestimmten Weg suchen.22

      3. Sie sind der Empfänger einer Bild-Botschaft. Fühlen Sie sich also angesprochen!

      Antwort: Ihre Antwort muss sich nicht mit der hier weiterverfolgten Methode decken. Wenn Sie sich aber für Punkt 3 entschieden haben, liegen Sie auf der Linie dieses Buches! Aber: 1 und 2 sind keine Irrwege. Es gibt tatsächlich Kunstwerke, die einen überwältigenden Eindruck machen und den Betrachter vor Ehrfurcht erstarren lassen. Andere faszinieren, und man versucht herauszufinden weshalb.

      Fühlen Sie sich einfach einmal angesprochen! Die erste Reaktion beim Betrachten eines Kunstwerkes läuft bei den meisten Menschen auf die Beurteilung gefallen beziehungsweise nicht gefallen hinaus. Wir reagieren damit nicht anders, als wenn wir einen Menschen kennenlernen: Wir fällen eine spontane, mehr oder weniger bewusste Entscheidung: sympathisch – unsympathisch beziehungsweise gefallen – nicht gefallen. Wenn wir uns etwas näher mit einem Menschen auseinandersetzen, fragen wir uns, weshalb wir ihn sympathisch beziehungsweise unsympathisch finden. Genauso können Sie sich beim Kunstwerk fragen, weshalb es Ihnen gefällt oder nicht. Es genügt schon, wenn Sie die Entscheidung begründen: Dieses Bild gefällt mir, weil … Hier können Sie nun das Passende einsetzen, also etwa: … weil es in meinen Lieblingsfarben gemalt ist; weil es mich an … erinnert; weil ich auch gerne so malen würde; weil ich es einfach schön finde; weil es in mir ein Gefühl von … auslöst etc. Analog verfahren Sie bei Nicht-Gefallen: Dieses Bild gefällt mir nicht, weil … mir das Sujet nichts sagt; weil mir zu viel Farbe drauf ist; weil es mich abstößt, weil ich es langweilig finde etc. Sie haben damit Ihr Urteil des Gefallens beziehungsweise Nichtgefallens begründet und als ein Angesprochener auf die Mitteilung reagiert.

      Die Anekdote zum Thema: Über einen Besuch Aurelio Luinis in Tizians Atelier wird erzählt: „Er sah ein wunderbares Landschaftsbild, das Tizian im Hause hatte. Auf den ersten Blick hielt Aurelio es für eine Schmiererei. Nachdem er aber zurückgetreten war, schien es ihm, aus größerer Distanz, als ob ihm das Bild die Sonne leuchtete und die Straßen vor ihr nach allen Seiten zurückwichen.“23

      Wie bei Menschen kann es auch beim Kunstwerk sein, dass Sie nach näherem Kennenlernen Ihr erstes Urteil überdenken oder gar revidieren müssen. Dies kann geschehen, indem Sie es differenzieren. Vielleicht sticht Ihnen in einem Bild, das Ihnen grundsätzlich missfällt, doch noch etwas ins Auge, das Sie gelungen finden. Möglicherweise gefallen Ihnen die Farben, obwohl Sie die Figuren unschön finden, oder Sie finden ein Bild kitschig, aber technisch gut gemalt, oder Sie fühlen sich auf gut Deutsch „verarscht“, und trotzdem finden Sie die Idee des Künstlers originell, oder Sie würden ein bestimmtes Bild nie in Ihre Wohnung hängen, können es sich aber gut in einem öffentlichen Raum vorstellen. Allein aufgrund dieser persönlichen Annäherung findet eine Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk statt und Sie lernen schon einiges über das Werk.

      Diesem ersten persönlichen Schritt auf ein Bild zu kann nun ein sachlicher folgen, eingeleitet durch die Frage: Was sehe ich? Vielleicht fällt Ihnen – noch bevor Sie Einzelheiten betrachten – auf Anhieb ein vorherrschendes Bildthema auf. Dann benennen Sie es. Das können ein Blumenstrauß, eine Küchenszene, eine weiße Leinwand sein. Nun wenden Sie sich – wenn vorhanden – den übrigen Bestandteilen zu: der Umgebung des Blumenstraußes, dem Hintergrund oder den Nebenschauplätzen der Küchenszene. Danach können Sie ins Detail gehen. Es gibt Bilder, bei denen man sich in den Details verlieren kann, da erkennt man noch die Fliege auf der Birne, den Wasserbeschlag am kühlen Bierglas oder das einzelne Haar des Pelzbesatzes. Der genaue Blick kann Ihnen aber noch ganz andere Einzelheiten offenbaren. Treten Sie doch noch einen Schritt näher an das Bild – so nahe es die Sicherheitsvorkehrungen des Museums Ihnen erlauben – und schauen sich den Farbauftrag an, Sie werden staunen, was Sie da entdecken: Da sieht man ja die einzelnen Pinselstriche! Sind das überhaupt Pinselstriche oder hat der Maler da eine andere Technik verwendet? Da schaut noch die Leinwand zwischen der Farbe hervor! Oder: Dieses Grün ist ja eigentlich ein Schwarz-Blau! Nachdem Sie sich auf diese Weise eine Übersicht verschafft haben, werfen Sie nun einen Blick auf die Begleittafel. Sie liefert Ihnen sachdienliche Hinweise, wie den Namen des Künstlers, Titel, Technik, Jahr und eventuell Herkunft des Bildes. Bei Reproduktionen in Büchern ist zudem unbedingt die Formatangabe zu beachten.

      Die Anekdote zum Thema: Der englische Maler Joshua Reynolds bemerkte voller Bitterkeit, dass britische Reisende, anstatt sich der Schönheit der berühmten Werke zu widmen, nur das Thema wissen wollen, den Namen des Malers, die Geschichte der Skulptur

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