Da draußen im Wald. Ernest Zederbauer
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Plötzlich schämte sie sich. Warum denke ich so, warum bin ich so verbittert, so ungerecht, jetzt, wo er nicht da ist, sich nicht verteidigen, rechtfertigen kann. Vielleicht ist ihm irgendetwas zugestoßen, vielleicht liegt er irgendwo da draußen in der Finsternis und schreit um Hilfe. Wie schon zwei Stunden zuvor rannte sie wieder in die Bauernstube zum Waffenschrank. Doch alle Waffen standen im Regal, gepflegt und sicher aufbewahrt wie immer, ohne sichtbare Lücke. Auch der Hund lag da und schlief auf seiner Matte. Wie schon so oft in dieser Nacht griff sie nach dem Handy, wählte seine Nummer, sprach vergeblich auf die Mailbox. »Warum«, so fragte sie verzweifelt, »hast du dein Handy nicht eingeschaltet? Du hast es mir doch versprochen! Man kann ja nie wissen, was passiert, da draußen im Wald.« Doch so oft sie auch wählte, es tat sich nichts.
Sie wusste nicht mehr ein oder aus. Sollte sie die Polizei verständigen? Jetzt, um diese Zeit? Was könnte die schon tun? Vor Tagesanbruch würde überhaupt nichts geschehen, und sollte er doch nach Hause kommen, dann wäre sie die Blamierte. Was aber, wenn er nicht mehr nach Hause käme? Wo würde er die Nacht verbringen? Er kannte den Wald wie seine Westentasche, also konnte er sich nicht verirrt haben. Wenn er sich verletzt hätte, irgendwo im Dickicht läge, dann konnte sein Hund ihn aufspüren. Er war Waldläufer genug, um einen provisorischen Unterschlupf für die Nacht zu finden. Spätestens um fünf würde es hell werden und er würde heimkommen, war sie sich sicher.
Sie versuchte wieder, etwas Schlaf zu finden, doch sie konnte es nicht. Wälzte sich ruhelos im Bett hin und her, den Kopf gedankenschwer und voller Zweifel. Konnte es sein, dass er bei einer anderen Frau schlief, mit einer anderen Frau schlief? War er nicht in der letzten Zeit wortkarg, ja sogar schroff gewesen? Wie lange war es her, dass er sie geküsst, in die Arme genommen, mit ihr geschlafen hatte? Hatte er eine Jüngere, Frischere, Leidenschaftlichere? Warum lief ihre Ehe nicht mehr so gut? War sie schuld? War er schuld? Waren sie beide schuld? Hatte sich ihre Ehe im Laufe der Jahre abgenutzt wie ein Küchengerät, ein Werkzeug? Seit wann gibt es die Sprachlosigkeit zwischen uns, das ständige Sich-aus-dem-Weg-Gehen? Sie grübelte und grübelte und fand keine Antwort. Kälte machte sich breit im Raum, kroch unter ihrer Bettdecke in ihr Herz.
Hat aber nicht Hegel gesagt, dass die Liebe das Absolute ist und erst am Schluss stirbt? Der Liebende stirbt zwar im anderen, aber diesem Tod folgt eine Rückkehr zu sich selbst. Ein eisiger Schauer rann ihr über den Rücken. Warum dachte sie jetzt, ausgerechnet jetzt, an den Tod? Wusste sie, fühlte sie, dass ihrem Josef, ihrem Sepp, wie sie ihn früher liebevoll genannt hatte, etwas zugestoßen war? Dass er – tot war?
2
Als flache Sonnenstrahlen durch den Vorhang sickerten und fingergleich über die Bettdecke strichen, stand sie auf. Rasch zog sie sich an, nahm den Hund an die Leine und ging in den Wald hinaus. Sie liebte den Wald ebenso wie ihr Mann. Doch auch hier wurde ihr der Gegensatz zwischen ihnen schmerzlich bewusst. Für ihn war der Wald eine Arbeitsstätte, die er zu verwalten, zu hegen und zu pflegen hatte. In der es um die Holzwirtschaft ging, um Schlägerung und Aufforstung, um Windbruch und Käferbäume, um die Anlage von Fahrwegen und die Lagerung sowie den Abtransport der Stämme. Dafür war er verantwortlich, seinem Arbeitgeber, der Herrschaft, Rechenschaft schuldig. Die Hege des Wildbestandes gehörte natürlich ebenfalls zu seinen Aufgaben, er hatte dafür zu sorgen, dass sich dieser in Grenzen hielt, um den Bäumen so wenig wie möglich Schaden zuzufügen.
Für sie war der Wald Ausdruck ihrer Spiritualität, die auf der Verehrung der Natur und ihrem Verständnis dafür, in Einklang mit ihren Zyklen und Bedürfnissen zu leben, beruhte. Für sie war ein Baum ein lebendes Wesen, Teil einer allumfassenden Harmonie und nichts, das man in Festmetern, Gewinn oder Verlust berechnete. Sie sah in der Natur einen wesentlichen Bestandteil ihrer Seelenebene, die sie mit all ihren Sinnen wahrnahm. Schon als Kind verweilte sie viele Stunden mutterseelenallein im Wald, vernahm das Raunen der Äste im Wind, das leise Gluckern eines Wasserlaufes, erfreute sich an all den Licht- und Schattenspielen im Unterholz. Jede kleine Tannennadel, jeder dahinkrabbelnde Käfer war ein guter Freund. Die allumfassende Harmonie der Natur mit ihren ureigenen Regeln, Rhythmen und Gesetzen faszinierte sie ungemein. Ihr Vater, der im Dorf als Exzentriker galt, da er bei den ersten Sonnenstrahlen nach langen Wintermonaten bereits barfüßig im Wald herumlief und dabei mit den Bäumen sprach, hatte ihr die sinnliche Erlebbarkeit der Natur nahegebracht und sie geprägt. Er war ihr Mentor, der ihr die Freundschaft, aber auch die Verantwortung für die Natur und die Schöpfung tief ins Herz gepflanzt hatte. Was sie draußen in der freien Natur empfand, ging weit über das Physische hinaus. Eines Tages hatte sie dieses Gefühl, welches sie bei ihren Streifzügen durch den Wald wahrnahm, ihrem Mann erklären wollen, doch er hatte sie nur ausgelacht, sie eine Mystikerin, eine Esoterische genannt. In diesem Moment begriff sie, dass man das Unerklärliche nicht erklären kann.
Ihr Sepp war eben ein verstandesmäßiger Mensch, für den es in der Natur keine romantisch verklärten Wesen gab, weder Zwerge noch Elfen. Ihr aber hatte sich auf wundersame Art der Geist eröffnet, der ihr den Sinn der Natur, die Sprache der Natur offenbarte. Wenn sie auf einer Waldwiese stand, in der frühen Morgensonne auf blühende Wiesenblumen und schwärmende Insekten sah, glasklar den Gesang der Vögel und das Rauschen in Blättern vernahm, dann wurde ihr mit einem Mal die Weisheit der Natur in all ihren Metamorphosen und Eigentümlichkeiten durchsichtig, dem absolut Göttlichen nah.
Doch in diesem Augenblick hatte die Sorge um ihren Sepp all diese Gedanken weggefegt. Immer weitere Kreise zog sie durch den Wald, immer wieder schrie sie seinen Namen laut in den dampfenden Forst hinein. Ließ den Hund von der Leine, immer wieder das Kommando »Such’s Herrl!« gebend. Zwei Stunden Zeitlimit hatte sie sich gesetzt, dann erst wollte sie umkehren und die Polizei verständigen. So sehr sie auch suchte, so wenig fand sie. Keine Spuren, keine Blutspritzer, keine verräterischen Zeichen einer Kampfhandlung. Grässliche Bilder geisterten durch ihr Gehirn. Bilder von einem Wilderer mit schwarz gefärbtem Gesicht und tödlicher Schrotflinte, von Dieben, die Holz verluden, welches nicht ihnen gehörte, von einem stürzenden Baum, der ihren Sepp unter sich begrub. Hastig, von innerer Unruhe zerrissen, stolperte sie durch den Wald. Seltsam, so dachte sie, dass der Hund so ruhig war. Dass er ihre Unruhe, ihre Furcht nicht verstand und gleichmütig neben ihr hertrottete.
Knapp vor sieben Uhr kehrte sie in das Forsthaus zurück, griff mit zitternder Hand nach dem Telefon, wählte die Nummer der Polizei. Der Postenkommandant, ein Schulfreund aus der Volksschulzeit, war selbst am Telefon. »Hallo Roland, ich bin es, die Susi, du musst mir helfen, der Sepp ist nicht nach Hause gekommen. Ich fürchte, dass ihm etwas zugestoßen ist!«
Er spürte die Verzweiflung in ihren Worten und versicherte ihr, in fünfzehn Minuten beim Forsthaus zu sein. Er wollte unnötiges Aufsehen vermeiden, nicht allzu früh die Klatschmaschinerie des Ortes anwerfen. So rasch er konnte, fuhr er zu ihr und nahm die Vermisstenanzeige zu Protokoll.
»So, jetzt erzähl mir in aller Ruhe, was passiert ist. Wann ist er von zu Hause weggegangen?« Sie berichtete ihm stockend, mit Tränen in den Augen. »Er ist gestern nachmittags gegen fünf Uhr noch einmal rausgegangen in den Wald, wollte eine Holzverladung kontrollieren, seitdem ist er wie vom Erdboden verschluckt. Ich hab die ganze Nacht nicht schlafen können und bin dann im ersten Morgenlicht mit dem Hund hinausgegangen, um ihn zu suchen. Doch weder er noch ich haben irgendeinen Hinweis