Mörderische Bilanz. Christopher Stahl
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„Es wäre auch zu schön gewesen, wenn die Ulmer die gesuchte Person gewesen wäre”, klagte ich. „Mir fällt sonst wirklich niemand ein, der mich dermaßen verabscheut. Aber”, kam mir plötzlich eine Idee, „vielleicht liegst du ja völlig falsch und es geht überhaupt nicht um mich. Vielleicht will man ja über eine Kampagne gegen mich den Hauptkommissar Koman fertig machen. Man schlägt den Esel, obwohl der Reiter gemeint ist, weißt du. Hast du denn einen Kollegen, dem du das zutrauen würdest?”
„Einen? Da fallen mir einige ein. Eigentlich jeder, der Probleme mit Gradlinigkeit, Offenheit und meiner oft unkonventionellen Vorgehensweise hat. Allen voran mein früherer Chef, Karsten Wehmut. Du weißt, dass ich im Fall Simonis nicht nur seine Ermittlungsschlamperein, sondern vor allem seine Mauscheleien aufgedeckt habe und er daraufhin in den Verwaltungsbereich versetzt worden ist.”
„Aber andererseits … wie sollte das denn einer machen, auch noch von La Palma aus, was für eine abwegige Idee”, gab ich irritiert zu bedenken.
„Wir sind beide nicht der Typ, der abwartet, bis ihm jemand das Messer in den Rücken stößt, wenn er erkennt, dass dieser jemand ausholt.”
Ich nickte, obwohl mich dieses – aus meiner Sicht überzogene – Beispiel immer noch nicht überzeugte. Andererseits hatte ich während der letzten Monate mehrmals die Erfahrung machen müssen, dass Fiktion und Realität eine geradezu gespenstige Symbiose eingehen können und aus vermeintlich abstrusen Gedankenspielen tödlicher Ernst werden kann.
Auch im Laufe meiner Berufsjahre hatte ich gelernt, dass selbst eine noch so ausschweifende Fantasie nicht dazu ausreicht, menschliche Abgründe auch nur annährend auszuloten. Es gibt, so meine Erfahrung, nichts, was es nicht gibt. Und dennoch – widerwillig schüttelte ich den Kopf.
Heribert entging meine Skepsis nicht und präsentierte mir daher einen Vorschlag zur Güte: „Was hältst du denn davon, wenn wir diese Sache zum Anlass nehmen, das zu tun, was wir ohnehin vorhatten. Du wolltest mir La Palma zeigen, wie es der normale Tourist nicht zu sehen bekommt. Und dabei nutzen wir meine Kontakte zu Inspector Muñoz und versuchen, den Ungereimtheiten vor Ort auf die Spur zu kommen. Außerdem würde ich Heribert gerne einmal wiedersehen.”
„Welche Ungereimtheiten?”, fragte ich.
„Vier Minuten und 33 Sekunden gegen 25 Sekunden.”
Ich gab mich geschlagen und überlegte bereits, wie ich Sonja eine halbwegs akzeptable Begründung liefern und mit ihrer zu erwartenden Ironie umgehen könnte.
Heribert unterbrach jedoch meinen Gedankengang. „Es bleiben halt zu viele Fragen offen, an deren Beantwortung dir doch auch gelegen sein muss. Woher sollte dich Conrad Hauprich gekannt haben? Weshalb könnte er dich angerufen haben? War sein Tod geplant oder das Ergebnis einer Eskalation? Tja, und dann die erwähnte Diskrepanz zwischen deinen Angaben über die Dauer des Telefongesprächs und die Aufzeichnungen im Telefonspeicher.”
„Vielleicht lässt sich das technisch manipulieren?” Irgendwie rebellierte ich immer noch.
„Durchaus möglich”, stimmte Heribert zu, „aber das würde doch erst recht auf eine geplante Aktion hindeuten. Und wenn wir dabei Heribert Muñoz noch bei der Suche nach dem Mörder von Conrad Hauprich unterstützen können …?”
„Also, auf nach La Palma”, sagte ich und versuchte meiner Stimme einen beherzten Ausdruck zu verleihen. „Wann kannst du?”
„Jederzeit. Mit Dieter Erb habe ich das schon geklärt. Er ist einverstanden damit, dass ich das erst einmal als Kompensation meiner Überstunden mache, damit der Anstrich des Privatvergnügens gegeben ist, falls es notwendig sein sollte. Du erinnerst dich noch an ihn?”
„Das ist ja wohl mehr eine rhetorische Frage.”
Der inzwischen zum Polizeidirektor avancierte, ehemalige BKA-Beamte war nicht nur der Vorgesetzte von Heribert, sondern auch freundschaftlich mit ihm verbunden. Seinen Dienstsitz hatte er in Worms. Er war maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass mein letzter kriminalistischer Ausflug so glimpflich ausgegangen war. Ohne seine Entschlossenheit, sich über bürokratische Formalia hinwegzusetzen, wäre ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben. „Um die Unterkunft brauchen wir uns keine Gedanken zu machen, das Haus ist zurzeit frei. Erst ab November hat es meine Agentur in Los Llanos wieder vermietet. Ich werde Paloma anrufen. Sie kümmert sich um die Reinigung und kann die Betten vorbereiten”, plante ich endgültig. „Wir müssen nur die Tickets buchen. Das ist ein bisschen problematisch so auf die Schnelle”, gab ich zu bedenken. „Und bitte nicht von Düsseldorf aus”, bat ich mit gespieltem Ernst.
„Was wäre falsch an Düsseldorf?”
„Du schaust wohl keine Nachrichten. Am Sonntag letzter Woche haben deine Kollegen wegen mehrerer Bombendrohungen Terminal und Zufahrtsstraßen geräumt. Da standen dann Tausende vor den Eingängen des Flughafens. Nichts ging mehr.”
„Gegen solche kranken Hirne sind wir halt nicht gefeit. Spinner gibt es immer und überall. Ich regle das mit den Tickets über Monika. Sie hat durch das Hotel immer Möglichkeiten, selbst in den unmöglichsten Situationen eine Lösung zu finden. Ich rufe dich an, sobald sie etwas erreicht hat, und werde dann auch Eribert informieren.”
Wir verabschiedeten uns, wobei ich ausdrücklich darum bat, Dagmar Keller zu grüßen, und ich machte mich wieder auf den Heimweg nach Bernheim.
Als nächstes musste ich Carlo Bescheid sagen, dass ich für unbestimmte Zeit in der Kanzlei ausfallen würde. Aber an diese Eskapaden waren er und die Mitarbeiter bereits gewöhnt. Unsere Arbeitsabläufe waren inzwischen bewusst darauf abgestimmt, dass ich immer einmal wieder für einige Tage ohne großartige Vorausplanung nicht zur Verfügung stand. Noch vor zwei Jahren wäre das für mich unvorstellbar gewesen. Ich hatte mich als unabkömmlich betrachtet, und diesem – fast schon an Arroganz grenzenden Trugschluss – meine Ehe geopfert. Ich war es ja nie anders gewohnt. Mein Vater, meine Kollegen und sogar meine Mitarbeiter lebten nicht nur in dem für unseren Berufsstand typischen Irrtum, ein Steuerberater müsse jeder Zeit und zu allererst für seine Mandanten da sein. Nein, sie suggerierten mir das auch beständig durch ihr Verhalten. Schließlich würden wir ja von unseren Klienten bezahlt, die dieses Verhalten für sich ungefiltert übernahmen.
Der Witz bei der Sache ist nur, dass man mich ja eigentlich wegen meiner Kenntnisse, meiner Fähigkeiten und meiner Verantwortung für das, was ich tue und sage, bezahlt. Ich werde nicht bezahlt für den – wenn auch unbedachten – hemmungs- und teilweise rücksichtslosen Zugriff auf meine Person. Das käme für mich einer besonderen Form der Prostitution gleich.
Nachdem ich dies einmal erkannt hatte, änderte ich konsequent einige beruflichen Selbstverständnisse. Ich nahm mir wieder den Spielraum an Selbstbestimmung zurück, den ich mir über viele Jahre hinweg Stück für Stück hatte beschneiden lassen. Und mit zunehmendem Interesse stellte ich fest, dass dabei weder die Mandanten noch die Mitarbeiter weniger betreut wurden, geschweige denn zu kurz gekommen wären. Zur Rettung meiner Ehe war es allerdings zu spät. Beatrice hatte sich bereits von mir scheiden lassen. Schon lange vorher hatte sie sich innerlich aus unserer Gemeinschaft verabschiedet. Unsere Beziehung lebte jedoch, verbunden durch unsere Söhne, in einer echten Freundschaft fort, die auch für Sonja kein Problem darstellte.
Sonja!,