Mörderische Bilanz. Christopher Stahl
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„Quatsch, das habe ich doch schon gesagt, dass Sonja bei der Chorprobe war. Deshalb kann ich mich ja auch so genau an die Uhrzeit erinnern”, erklärte ich genervt.
Heribert seufzte resigniert: „Wir brauchen eine schlüssige Antwort, oder aber …!”
Ich überlegte kurz, tippte mir mit dem Zeigefinger an die Stirn, als ich den logischen Fehler erkannt hatte, und lachte dann zu Heriberts sichtlichem Erstaunen lauthals auf. Bevor er sich von seinem Staunen wieder erholte, wurde ich schlagartig ernst.
„Zu welchen Schlussfolgerungen aus all dem, was nun schwarz auf weiß bekannt ist, könnte denn einer deiner Kollegen kommen? Einer, dem ich so unsympathisch bin, dass er seine Animosität bewusst zügeln muss, und der zudem von seiner Kombinationsgabe überzeugt ist.”
„Du meinst so einen übereifrigen, karrieregeilen Typen mit überbordender Fantasie? So einer, wie er als Realität getarnte Persiflage in schlechten Fernsehkrimis vorkommt?”
„Jetzt sag bloß, in deinen Reihen gibt es nur unfehlbare Computer, statt Menschen, normale Menschen, mit normalen Schwächen, die sie zu ihrer eigenen Karikatur machen können.”
„Das mag ich jetzt nicht diskutieren”, wehrte Heribert ab. „Aber auch ohne die Kombinationsgabe eines Sherlock Holms liegen mögliche Schlussfolgerungen offen auf der Hand: Ganz einfach – du lügst!”
„Und warum, bitte sehr, sollte ich lügen?” forderte ich Heribert heraus, dem der logische Fehler immer noch nicht aufgefallen war.
Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht um jemanden zu decken. Jemanden der um halb zehn noch kein Alibi hat, wohl aber um halb elf, wenn ihn ein Duzend Zeugen in einer Taverne bei einem guten Wein gesehen haben. Oder aber du hast gar nicht mit Hauprich gesprochen, sondern mit dem Täter, der dich um Hilfe bittet oder – schlimmer noch – der dir mitteilt, dass der Auftrag erledigt ist.”
„Und das Motiv?” bohrte ich nach.
Heribert blies die Backen auf.
„Siehst du, das Schweigen im Walde, du hast nichts, was beweisbar wäre”, trumpfte ich auf. „Das Ganze steht und fällt doch damit, dass es als Tatsache gilt, dass nicht Conrad Hauprich mit mir telefoniert hat, sondern eine unbekannte Person. Und zwar von Hauprichs Anschluss aus”, resümierte ich.
„Ja, und zwar, da du ja auf Beweiskraft pochst, nachweislich 4 Minuten 33 Sekunden lang.”
Ich sah Heribert durchdringend an, bevor ich ihn mit der Feststellung „du warst doch erst dieses Jahr in deinem Urlaub auf den Kanaren”, sichtlich überraschte.
„Ja, auf Fuerteventura, das weißt du doch. Was hat das mit dieser Sache zu tun?”
„Sehr viel. Kurz vor der Landung in Puerto del Rosario, was hat der Flugkapitän da über die Ortszeit und das Stellen der Uhren gesagt?”
Heribert runzelte die Stirn, blickte irritiert erst auf seine Uhr und dann wieder auf mich, bevor er mit der flachen Hand laut klatschend gegen seine Stirn schlug.
„Wie kann mir so etwas nur passieren?!”, Heribert schüttelte ärgerlich der Kopf. „Seit wann war dir klar, dass es nach der kanarischen Ortzeit eine Stunde früher als bei uns ist?”
„Seit dem Moment, als du so händeringend eine schlüssige Antwort gesucht hast. Da wollte ich den Gedankenfehler noch aufklären, aber du warst so im Rausch deiner potenziellen Beweisführung, dass ich dir deinen Spaß gönnen wollte.”
„Das ist kein Spaß, Darius!” Heriberts Stimme klang fast verzweifelt. „Mir geht es vor allem auch darum, dass du nicht in irgendeine Schweinerei hineingezogen wirst und ich nichts mehr daran ändern kann, wenn du von anderen Kollegen in die Mangel genommen wirst. Was meinst du, wie unsere Freundschaft und deine Aktivitäten bei der Aufklärung der Mordfälle deines Freundes Horst Scheurer und deines Kollegen Peter Simonis im Kollegenkreis kolportiert werden. Da ist Neid im Spiel, der mit dem Mäntelchen der massiven Verstöße gegen unsere internen Regeln zugedeckt wird. Was meinst du, was ich mir deswegen schon alles habe anhören müssen. Und dir ans Zeug zu flicken wäre für einige ein wahres Festival.”
Ich sah ihn ungläubig an. Fast beschwörend redete er daher auf mich ein. „Vermutlich ist es ja wirklich einer dieser verhängnisvollen Zufälle, aber als Kriminalist muss ich in verschiedene Richtungen denken. Vielleicht”, mutmaßte er, „bist du jemanden auf die Füße getreten und diese Person, oder auch ein Personenkreis, will dich diskreditieren. Man will dich persönlich und beruflich fertig machen!”
Ich sah ihn fragend an. „Auch wenn es der größte Schwachsinn ist? Kein Mensch bringt am anderen Ende der Welt einen Menschen um, nur um einem dritten an diesem Ende der Welt ans Zeug zu flicken!”
„Und wenn einer nun zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen will?”, hielt Heribert dagegen.
„Aber dann würde das Ganze doch nur Sinn machen, wenn es eine Verbindung zwischen Hauprich und mir gäbe. Aber ich kenne den Mann gar nicht! Bin ihm nie begegnet, ich weiß nicht einmal, ob ich einen Mandanten habe oder hatte, der vor Urzeiten zu seinem Mandantenstamm gehörte.”
„Das könntest du aber herausfinden.”
„Das kann ich versuchen. Trotzdem, deine Schlussfolgerungen, lieber Heribert, kommen mir nun wirklich etwas paranoid vor. Verzeih bitte diesen Ausdruck, aber mir fällt momentan nichts Besseres ein.”
„Was du als Verfolgungswahn abtust, nenne ich Wachsamkeit, meinetwegen auch Argwohn.”
Ich merkte, dass Heribert von meiner Reaktion über seine Sorge um mich gekränkt war, und nahm daher ihm zuliebe den Gedanken an eine Rache gegen mich auf.
„Da fällt mir spontan nur eine Person ein, der ich einerseits die nötige kriminelle Energie, die Skrupellosigkeit und andererseits den Verstand zutraue, etwas derartigesauszuhecken und auch durchzuführen. Ein Mensch, der mich tatsächlich abgrundtief hassen muss …”
„Sabine Ulmer!”, sagten wir gleichzeitig.
„Die kann es aber nicht sein. Sie ist weiterhin hier in Alzey in der Landesnervenklinik. In der Forensischen Psychiatrie sind die Sicherungsmaßnahmen so streng, dass sie keinen Kontakt zur Außenwelt hat. Höchstens ihre Mutter kann sie kurz besuchen, sonst niemand. Ärzte, Pflegepersonal, ihr Anwalt, wir und ihre Mutter, das sind die einzigen Personen, mit denen sie Kontakt hat”, erklärte Heribert.
„Und woher sollte sie Hauprich kennen? Die Ulmer hatte ja noch nicht mal Abitur, als der nach La Palma ging!”
„Tja …”, sagte Heribert ratlos und verfiel ins Nachdenken.
„Hast du sie denn noch einmal vernommen?”, unterbrach ich seine Grübeleien.
„Nein, das macht jetzt Bert Heusinger, der zuständige Staatsanwalt. Letzte Woche haben wir kurz miteinander gesprochen. Da ging es auch um Sabine Ulmer. Er schilderte mir, dass sie sehr kooperativ ist und offensichtlich langsam erkennt, dass ihre vermeintliche Rache bitteres Unrecht war. Es sieht so aus, als würde sie ihre Taten bereuen. Vor allem macht ihr auch der Mord an Tilo Sommer zu schaffen.”
„Kann das nicht auch ihre Verteidigungsstrategie sein?”, fragte ich misstrauisch.
„Das glaube ich nicht. Heusinger ist erfahren genug,