Die unverhoffte Genesung der Schildkröte. Marc Bensch

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Die unverhoffte Genesung der Schildkröte - Marc Bensch

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er die penibel gesäuberte Allee mit den leicht im Wind wiegenden Kastanienbäumen entlangfuhr – in einem Fahrzeug, das bei sämtlichen hinter ihren Vorhängen hervorlinsenden Nachbarn die Alarmglocken schrillen lassen musste, seinem verbeulten und verrosteten Fahrzeug, das er trotz aller Makel liebte, weil es ihn nie im Stich ließ, wenn es darauf ankam –, war es ihm, als säße sie auf dem Beifahrersitz und rede wieder auf ihn ein. Vergnügt diesmal, weil er endlich, endlich heimkehrte und diese lächerliche Fehde beendete. Jahrelang hatte er sich mit seiner Mutter nur an neutralen Orten getroffen und selbst dann keinen Schritt in das Geisterhaus gesetzt, wenn der Vater auf Geschäftsreise war und ein Ozean zwischen ihnen lag. Nun flog die Vergangenheit vorbei wie die Daumenkinos mit den fliegenden Pferden und rasenden Rennautos, die ihn als kleiner Junge so fasziniert hatten.

      Eine entscheidende Sache war diesmal anders. Sein Vater hatte »bitte« gesagt.

      Matthias Caspar legte die letzten fünfhundert Meter im Schritttempo zurück. Im Vorbeirollen spähte er in die Einfahrten. Je weiter er der Straße folgte und sich dem höchsten Punkt der Anhöhe näherte, desto herrschaftlicher waren die Häuser und desto größer war der Abstand zwischen ihnen. Obwohl sich die Sonne pünktlich zum Sonntag zu scheinen erbarmte, wenngleich nur mit schwachen Strahlen, sah er nirgendwo Menschen, schon gar keine Kinder.

      Auch das hatte sich also nicht verändert.

      Vor der Villa seines Vaters parkte er den Wagen – genau davor, die besorgten Nachbarn sollten das Schauspiel mit dem verlorenen Sohn ruhig mitbekommen. Er stellte seine Füße auf den Asphalt, schaute einmal an sich herunter, zupfte eine Fluse von der Hose, atmete tief durch und hievte den Rest seines Körpers ins Freie.

      Eine der Nachbarinnen, früher stets akut besorgt, hörte er durch ein offenes Fenster. Mit krächzender Stimme sang sie eine Arie, völlig talentlos, unterbrochen von einer leiseren Männerstimme, ihrem Gesangslehrer, wie Matthias Caspar ganz richtig vermutete. Er gönnte dem Mann ein großzügiges Schmerzensgeld.

      An Briefkasten und Klingelschild der Liebenich-Residenz standen keine Namen mehr, sondern Initialen, die seines Vaters und noch immer die seiner Mutter. Das Gartentor fand er angelehnt vor – ein Lieferjunge oder der Gärtner mussten vergessen haben, es ordnungsgemäß zu schließen. Er war schon durchmarschiert, mit einem strammen Salut zur alten Überwachungskamera und mit knirschenden Schritten auf dem Kiesweg, da stockte er, blieb stehen, überlegte, machte noch einmal kehrt und griff in seine Hosentasche.

      Es war eigentlich nicht wichtig, aber es interessierte ihn trotzdem: Der alte Schlüssel passte nicht mehr.

      Als er sich umdrehte, sah er seinen Vater zwischen der mittleren und der rechten Steinsäule vor dem Hauseingang stehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er trug seinen Sonntagsanzug.

      »Guten Tag, Sohn«, sagte er. Mehr nicht.

      Matthias Caspar ging auf ihn zu, den Schlüsselbund noch in der Hand. Er hielt ihn seinem Vater unter die Nase. »Du hast also die Schlösser austauschen lassen, was?«

      »Herrje, du beziehst das doch nicht etwa auf dich? Ich hatte Schwierigkeiten mit zwei unverschämten Bediensteten, die ich entfernen musste. Der Austausch war eine reine Vorsichtsmaßnahme.«

      »Na, wenn das so ist …«

      Es sollte provozierend klingen. Doch Hermann Liebenich ließ es ihm durchgehen. Matthias Caspar wertete das als untrügliches Zeichen dafür, dass der Alte tatsächlich ein massives Problem hatte, für dessen Lösung er seine Hilfe benötigte. Sein Vater ließ ansonsten nicht unwidersprochen in einem solchen Ton mit sich reden.

      Der Privatdetektiv besaß durchaus Kombinationsgabe. Hermann Liebenich hatte ein massives Problem. Und verfügte – das war das Schlimmste – über keinerlei Erklärung. Weder dafür, wie dieses Problem überhaupt hatte entstehen können, noch, warum er es nicht vorhergesehen hatte.

      Es hatte eigentlich ein gemächliches Wochenende werden sollen – einmal im Monat gönnte sich Hermann Liebenich einen freien Samstag und Sonntag. Zwar pflegte er selbst an freien Samstagen und Sonntagen vor dem Morgengrauen aufzustehen, um es sich noch im Schlafrock bei einer Tasse Filterkaffee von stählerner Stärke auf einer rückgratschonenden Wellnessliege im Wintergarten gemütlich zu machen und die Zeitung zu studieren, erst den Wirtschafts-, dann den Lokalteil. Doch tat er das, anders als an den üblichen Tagen, weniger, um sich zu informieren, sondern zuvorderst, um sich zu entspannen.

      Normalerweise gelang ihm das. An diesem Samstag jedoch hatte er sich bei der Lektüre beinahe an seinem Morgentrunk verschluckt. Um ein Haar wäre ihm seine Tasse aus der Hand gerutscht – Aufschrift: Wenn der Keks spricht, haben die Krümel Pause, ein spätes Geschenk seiner vor zwei Jahren verstorbenen Frau. Der Aufmacher im Lokalteil lautete: Korruptionsgerüchte erschüttern Rathausspitze, Untertitel: Bei der Vergabe von Aufträgen soll es zu Mauscheleien zwischen politischen Entscheidungsträgern und Vertretern der lokalen Wirtschaft gekommen sein.

      Hermann Liebenich wusste sofort, dass er den Namen seiner Firma nicht in dem Artikel finden würde, die Zeitung hätte angerufen und um eine Stellungnahme gebeten. Und dennoch fürchtete er zu wissen, worauf der Text anspielte. Er las die Zeilen wie elektrisiert.

      Es dauerte ein paar Minuten, bis sich sein Herzschlag wieder etwas beruhigt hatte, aber er entsprach längst nicht den Werten eines freien Samstages. Die Zeilen bargen wenig Handfestes, stützten sich ganz auf eine namentlich nicht genannte Quelle, die Belege für einen besonders schweren Fall von Unregelmäßigkeiten bei einem öffentlichen Auftrag zu besitzen vorgab. Ein gleichermaßen nicht genanntes ranghohes Mitglied der Rathausspitze sei unmittelbar verwickelt. Offenbar war sich der Autor selbst nicht sicher, wie vertrauenswürdig sein Informant war. Er hielt sich merklich zurück, war darauf bedacht, sich nicht an den Karren fahren zu lassen, sollte sich alles als gemeine Verleumdung herausstellen. Sein Fokus lag vielmehr da­rauf, über die Wellen zu berichten, die die Nachricht innerhalb der Stadtverwaltung ausgelöst hatte. Einen Sprecher zitierte er mit den Worten, es handele sich um eine »unvorstellbare Anschuldigung«. Aber solange keine eindeutigen Belege für ein schuldhaftes Verhalten vorlägen, stünde der Oberbürgermeister selbstverständlich felsenfest hinter seinen Referatsleitern und Verwaltungsmitarbeitern.

      Hermann Liebenich schaute auf die Uhr. Es war kurz vor sieben. Alles in ihm drängte danach, den Bürgermeister für Allgemeine Verwaltung anzurufen, aber er wusste, dass der an Freitagabenden gern mal einen über den Durst trank. Erst recht, wenn er gestresst war. Und wenn die vierte Gewalt das Rathaus mit Vorwürfen konfrontierte, die einzig auf ihn zurückfallen konnten, steckte er das sicher nicht leichtfertig weg. Zumal: Besonders nervenstark war ihm dieser Politbubi bislang nicht erschienen. Ein Anruf versprach demnach wenig Ertragreiches und wahrscheinlich war es sowieso sinnvoller, dem Bürgermeister von Angesicht zu Angesicht entgegenzutreten.

      Also sprang Hermann Liebenich auf und eilte ins Bad. Zu langes Grübeln galt ihm als Zeichen von Schwäche.

      Es war ein Jahr her, dass dem Boss von Liebenich Acoustics die Ausschreibung für die lukrative Neuausstattung aller Sitzungsräume des Rathauses und einiger Bezirksämter mit zeitgemäßer digitaler Technik auf den Tisch geflattert war und er beschlossen hatte, dass er sich einen solchen Auftrag nicht entgehen lassen konnte. Und wenn ein Hermann Liebenich beschloss, sich einen Auftrag nicht entgehen zu lassen, dann entging er ihm nicht.

      Es war in der Vergangenheit immer mal wieder notwendig gewesen, sich gewisser Mittel zu bedienen, die manche nicht gutheißen würden, aber diese Moralapostel waren entweder Versager oder Ahnungslose, im schlimmsten Fall beides. Jeder Macher von Rang wusste, dass man fraß oder gefressen wurde, immer wieder aufs Neue.

      Warum also sollte er, ein Leistungsträger,

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