Die unverhoffte Genesung der Schildkröte. Marc Bensch
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Читать онлайн книгу Die unverhoffte Genesung der Schildkröte - Marc Bensch страница 6
»Herr Dr. Liebenich, ist etwas passiert?«, erkundigte sich die Pressesprecherin und stand auf.
»Nein, nein, meine Liebe«, antwortete der Eindringling. »Ich hatte nur ein wenig Zeit und dachte mir, ich mache mir ein persönliches Bild von unserem Bewerber.« Der Boss ging um den Tisch herum und streckte seine Hand aus. »Liebenich, angenehm.«
»Ludwig Mayer«, sagte Sebastian Vogt und hätte um ein Haar Sebastian Vogt gesagt.
Er musste sich erst daran gewöhnen, Ludwig Mayer genannt zu werden, musste aufpassen, sich auch selbst immer schön als Ludwig Mayer vorzustellen – und bei niemandem so sehr wie bei Hermann Liebenich, dem zu begegnen er an diesem Tag niemals gehofft, niemals erwartet hätte.
Sebastian Vogt hatte Ludwig gewählt, weil er sich keinen grundsolideren deutschen Vornamen vorstellen konnte, und Mayer, weil es Zehntausende mit diesem Nachnamen gab. Es war nicht sonderlich schwer gewesen, einen Lebenslauf zu fälschen und passende Urkunden zu beschaffen, die seine angebliche Eignung für die Stelle untermauerten. Egal, in welcher Welt man lebte, nichts ging über Kontakte; die einen waren eben glänzend, die anderen schmierig.
Aber nichts und niemand hätte ihn auf den Moment vorbereiten können, in dem Hermann Liebenich vor ihm stand.
»Jetzt gilt’s«, riefen Sebastian Vogts innerer Zweifler und der Zornige im Chor.
Ludwig Mayer stand auf, schnappte nach der ausgestreckten Hand und packte seinen härtesten Händedruck aus. Er sah dem Boss tief in die Augen.
Alles oder nichts.
»Schön«, sagte Hermann Liebenich, schüttelte, lächelte, ging weiter. »Ich wollte Sie nicht unterbrechen. Sie waren gerade dabei, etwas auszuführen?«
Der Boss nahm neben der Personalleiterin Platz, und Sebastian Vogt glaubte zu erkennen, dass die sich fragte, was dieses Spiel solle. Er tat das auch, ließ es sich aber nicht anmerken.
»Ich war gerade dabei zu skizzieren, worauf wir bei einer möglichen neuen Pressekampagne meiner Ansicht nach den Fokus legen sollten. Völlig aus dem Bauch heraus, versteht sich, ich kenne Ihr Unternehmen schließlich bislang nur aus der Außenperspektive.«
»Ah ja, sehr interessant«, erwiderte Hermann Liebenich, lehnte sich zurück, nickte, schnellte vor, stützte sich mit den Ellenbogen auf die Tischplatte und beugte seinen Oberkörper nach vorn. »Darauf kommen wir gleich zurück. Aber erlauben Sie mir vorher ein, zwei kurze Fragen?«
»Selbstverständlich.«
Sebastian Vogt kopierte Liebenichs Haltung.
Hätte einer von ihnen zum Mittagessen Knoblauch gespeist, der andere hätte es garantiert gerochen.
»Wie viele Giraffen auf der Welt quälen sich aktuell mit einer Bindehautentzündung herum?«
Sebastian Vogt verzog keine Miene. »Da müsste ich mich erst schlau machen.«
»Was glauben Sie denn?«
»Dass Ihnen niemand diese Frage korrekt beantworten kann. Aber war Ihnen bewusst, dass fast alle Giraffen bisexuell sind?«
Hermann Liebenich verzog keine Miene. »Warum, glauben Sie, haben unsere Liebx3-Lautsprecher so häufig Störungen und generell eine so kurze Lebensdauer?«
»Haben sie das?«
»Lesen Sie denn keine Produktbewertungen im Internet? Wir produzieren praktisch Schrott. Unbrauchbaren Klump.«
»Wir wissen doch beide, was von Bewertungen im Internet zu halten ist. Und wenn einer der renommiertesten Autobauer weltweit seit Jahren auf Ihre Freisprecheinrichtungen und Lautsprecher vertraut, spricht das doch für sich.«
»Wir wissen doch beide, wie schnell auch das Renommee des renommiertesten Autobauers verblassen kann.«
»Und genau deswegen ruhen Sie sich ja auch nicht auf Ihren Lorbeeren aus, sondern investieren in Innovation. Glauben Sie mir, würde ich mir Sorgen um Ihr Renommee machen, ich hätte mich nicht bei Ihnen beworben.«
Hermann Liebenich lehnte sich zurück. Sein Lächeln war für Sebastian Vogt nicht zu deuten, aber er lächelte mit. »Ihnen ist bewusst, dass es sich bei Ihrer Stelle um eine befristete handelt, Herr Mayer?«
»Ein Jahr ist eine lange Zeit, Herr Dr. Liebenich. Da kann sehr vieles passieren.«
»Sie täuschen sich. Ein Jahr verfliegt. Aber diese Naivität schreibe ich Ihrer Jugend zu. Und nun erzählen Sie mir«, er blickte über seine rechte Schulter, »erzählen Sie uns, Herr Mayer, mit welcher Pressekampagnen-Idee Sie unser lahmendes Geschäft wieder in Galopp bringen möchten.«
Sebastian Vogt alias Ludwig Mayer erzählte.
Sebastian Vogt alias Ludwig Mayer bekam den Job, obwohl die Pressesprecherin und die Personalleiterin beide eine andere Kandidatin für geeigneter hielten, den Wunsch des Bosses aber akzeptierten – ohne zu ahnen, dass der einfach nur herausfinden wollte, woher er den jungen Mann kannte, ohne ihn fragen zu müssen.
Sebastian Vogt alias Ludwig Mayer kehrte einige Wochen später an den Ort seines Verbrechens zurück, bezog sein winziges Büro, blätterte in Compliance-Richtlinien, klickte sich durchs Intranet, saugte Informationen auf und malte sich währenddessen nur eines aus: Wie es sich anfühlen würde, die Existenz von Hermann Liebenich unwiederbringlich zu zerstören.
Kapitel drei
Die Polizeireporterin gähnte. Es hatte einen Mord gegeben. Eine halbe Stunde nach Redaktionsschluss. Oder fünfzehn Minuten vor Chopsuey, wie sie quäkend lamentierte. »Ich stand schon vor der verdammten Theke, als dieses Scheißdiensthandy meinte, bimmeln zu müssen.«
Paul Gram unterdrückte ein Schmunzeln. Er lümmelte in seinem Stuhl, die langen Haxen unter dem Konferenztisch ausgestreckt, wirbelte seinen Lieblingsstift von Finger zu Finger und starrte die Sitznachbarin ununterbrochen an, um herauszufinden, ob er sie, die Motzende, irgendwie aus dem Konzept bringen könnte, vielleicht sogar zum Lachen.
Kampfzwerg lautete in der Redaktion der heimliche Spitzname der sehr kleinen, sehr zierlichen Gestalt Ende vierzig, die rumpeln konnte wie eine Dampflok. Ihre dunklen Locken schleuderten dann hin und her wie Pogotänzer im Drogenrausch. Die Vorstellung, ausgerechnet dieses Fräulein berichte über böse, schwere Buben, amüsierte die Menschen. Allerdings längstens so lange, bis sie ihnen entgegentrat. Die Wenigen, die wie Paul Gram ihr wahres Ich kannten, zogen sie für ihre Attitüde gelegentlich auf.
»Dafür ist ein freier Tag fällig, ich sag’s dir«, raunte sie in Richtung des Ressortleiters.
Paul Gram pikste sie unbemerkt von den anderen unterm Tisch in die Hüfte. Sie revanchierte sich mit einem zielsicheren Tritt gegen sein Schienbein, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Stattdessen funkelte sie weiter den Ressortleiter an.
Der aber ging nicht auf die Forderung