Die unverhoffte Genesung der Schildkröte. Marc Bensch

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Die unverhoffte Genesung der Schildkröte - Marc Bensch

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Lokalchef seines Flaggschiffs ernannt. Da war der gerade achtundzwanzig geworden und fortan in grellen Klamotten und mit einem umgedrehten Basecap auf dem Schädel durch die Redaktion gestiefelt, um jedem zu erklären, dass er nicht der Feind sei. Dass er die gedruckte Zeitung liebe, es aber neuer Konzepte bedürfe, um gemeinsam dieses wunderbar traditionsreiche Medium wieder groß zu machen.

      Wenige Monate später kippte Paul Grams Mentor, der damalige Ressortleiter und Herzinfarkthochrisikopatient, in einer Stadtratssitzung um – im Dienst gefallen während der Haushaltsberatungen. Und sein Vize, der schon damals nicht und auch seitdem nie im Leben auf die Idee gekommen wäre, für die Zeitung Termine dieser Art wahrzunehmen, stieg diskussionslos zum Nachfolger auf.

      Seit drei Jahren trug er nun weiße Hemden anstelle bunter Shirts und auf dem Kopf statt eines Basecaps eine halbe Tube Haargel. Am lebendigsten wirkte er während gut besuchter Leserevents, bei denen er dem Oberbürgermeister vorher abgesprochene freche Fragen stellte.

      »Wir haben uns schon eine Weile nicht gesprochen. Ich wollte mal hören, was es Neues gibt.«

      Das Büro des Ressortleiters bestach durch seine breiten Fensterfronten zur Süd- und zur Westseite hin. Er wühlte in Unterlagen, während er zu Paul Gram sprach. Der saß ihm gegenüber – zurückgelehnt und mit vor dem Bauch gefalteten Händen. Dem Bauch, den sein Vater bei seinem jüngsten Besuch fies grinsend getätschelt und dabei gefragt hatte, wie es sich anfühle, wenn das Alter an einem nage. Es war eine Unverschämtheit sondergleichen gewesen, die Paul Gram ausgerechnet jetzt wieder einfiel und die ihn, väterlicher Scherz hin oder her, massiv verunsicherte, was er freilich nie im Leben zugegeben hätte. Seine Erscheinung war unverzichtbarer Bestandteil seines Kapitals in der Welt außerhalb seiner hochgeschätzten Intimität. Deswegen achtete er tunlichst auf Harmonie und Symmetrie, angefangen beim immer gleich kurzen Haarschnitt und dem ewigen Drei-Tage-Bart, der seinem Gesicht mit den feinen Zügen Charakter verleihen sollte.

      Du musst wissen: Paul Gram ist niemand, der sich häufig hinterfragt. Aber wenn er es täte, müsste es ihm absurd vorkommen, wie sehr jemand, der davon überzeugt ist, dass jeder in seiner eigenen Welt lebt, darauf erpicht ist, einen bleibenden Eindruck bei anderen zu hinterlassen. Aber es funktioniert, du wirst das bald selbst erfahren. Was ihn auszeichnet, ist diese explosive Mischung aus Stolz und Selbstgefälligkeit, die vielen Journalisten eigen ist und die ihnen, wenn sie nicht aufpassen, gewaltig um die Ohren fliegt.

      Ein Bauchansatz, so fand er jedenfalls, war das letzte, was er gebrauchen konnte.

      »Geht’s dir gut, Paul?«

      »Ich kann nicht klagen.«

      »Gut, das ist gut«, erwiderte der Ressortleiter, hob den linken Zeigefinger, sagte »kleinen Moment, bitte« und überflog zwei Ausdrucke, die von der anderen Seite des Tisches wie Protokolle aussahen.

      Zehn Sekunden lang herrschte Stille, dann legte er die Unterlagen beiseite. »Habe ich dir schon gesagt, dass diese Geschichte mit dem IS-Vater großartig war? Ein Meisterstück.«

      Zu loben war für ihn die antrainierte Methode, hinterher zu verlangen. Paul Gram wusste also genau, was kommen würde.

      Aber es stimmte. Das Porträt des von Kummer erfüllten Gastarbeiterkinds mittleren Alters, das seinen Sohn als IS-Kämpfer in Syrien vermutet und loszieht, um ihn zurückzuholen, war ein feuchter Reportertraum. Eine Story über die Perspektivlosigkeit und Wut der heimatlosen dritten Generation, die weder in dem Land, in das sie hineingeboren worden war, noch in jenem, aus dem ihre Großeltern stammten, als erwünscht gilt, geschweige denn als akzeptiert. Das Ganze gewürzt mit der hilflosen Stimme der Eltern, die nicht verstehen, was da geschieht mit der Welt, woher der plötzliche Fanatismus ihres früher kaum religiösen Sohns kommt, dem einzigen Sprössling, den Allah ihnen geschenkt hat. Es war eine Geschichte, die eigentlich zu gut war, um wahr zu sein.

      Und uneigentlich auch.

      »Danke, danke. Hast du schon. Aber deine Wertschätzung freut mich sehr.«

      »Gibt’s was Neues? Ist ja jetzt schon wieder zwei Wochen her. Kannst du irgendwas weiterdrehen?«

      »Leider nicht. Ich habe versucht, ihn zu kontaktieren, aber niemand weiß, wo er steckt, auch seine Frau nicht.«

      Der Ressortleiter nickte und bemühte sich vergeblich darum, betrübt dreinzublicken. »Und sonst? Der Chef hat sich nämlich bei mir erkundigt, was unser emsiger Investigativmann so treibt. Das waren seine exakten Worte.«

      Paul Gram kannte das Spielchen. Er besaß große Freiheiten in der Redaktion, war von allen ungeliebten Wochenend- oder Blattmacherdiensten befreit, bekam nur in äußersten Notfällen Termine aufs Auge gedrückt, musste nicht an den Konferenzen teilnehmen. Im Gegenzug verlangte man von ihm regelmäßig einen Scoop. Einen Kracher, bei dem sich jeder, ob Kollege, Konkurrent oder Leser, fragte, wie dieses Schlitzohr da schon wieder an Informationen gekommen war, die sonst keiner hatte.

      Es war nicht so, dass diese Begünstigungen nicht von Zeit zu Zeit infrage gestellt wurden, dass ihn alle mochten und seine Verdienste schätzten. Aber die meisten taten es, und er war froh darüber, dass es vor allem die Entscheidungsträger taten, die er so leidenschaftlich verachtete.

      »Also gut, dir kann ich’s ja sagen. Ich bin da an einer ganz heißen Sache dran, aber ich brauche noch ein paar Tage. Es geht um Tarifflucht, Scheinselbstständigkeit, ausgebeutete Mitarbeiter.«

      »Geil, wo?«

      »Bei uns«, sagte Paul Gram mit ausdrucksloser Miene.

      »Haha, sehr witzig«, antwortete der Ressortleiter und konnte es trotzdem nicht vermeiden, bleich zu werden.

      »Keine Sorge«, beruhigte ihn sein Gegenüber. »Es geht um etwas anderes. Ich kann noch nicht darüber sprechen, aber es ist groß. Sehr groß.«

      Kapitel vier

      Matthias Caspar war wie sein Auto: voller sichtbarer und unsichtbarer Makel. Die altersschwache Karre hatte ihre beste Zeit längst hinter sich. Sie zählte dreizehn Jahre, ihr Besitzer dreimal so viel. Am Gefährt knabberte der Rost, am Steuermann der Zweifel. Er wartete noch immer darauf, dass seine beste Zeit endlich begann.

      In diesen Samstagmittagsstunden wartete er in seinem Auto. Nicht auf beste oder auch nur bessere Zeiten. Sondern darauf, dass etwas passierte. Das war sein Job. Oder der Teil seines Jobs, der ihn am heftigsten anödete. Erst recht, wenn wie heute einfach nichts passierte. Und er nur dasitzen konnte, ein Hörbuch hören und Pistazien im Akkord essen, die er aus dem viel zu kleinen Loch einer Mammutpackung pulte, die Schale öffnete, die eine Hälfte im Fußraum der Beifahrerseite verschwinden ließ, den Kern in den Mund warf und die zweite Hälfte der Umhüllung zu den anderen bugsierte.

      Zu warten kostete Kraft. Egal, ob man auf jemand anderen wartete, eine Zielperson etwa, oder auf sich selbst.

      Matthias Caspar sah müde aus. Er sah mittlerweile sogar dann müde aus, wenn er hellwach war. Hinter den riesigen Gläsern seiner altmodischen Brille verkrochen sich winzige Augen, er war chronisch blass, kämmte sich selten und bewegte sich häufig wie in Zeitlupe. Einiges, vor allem die ungeordnete Frisur und das apathische Auftreten, war zwar Maskerade – es gehörte zu seiner Strategie, unterschätzt zu werden, weil es ihm dann einfacher fiel, seine Kontrahenten zu überrumpeln.

      Aber das Problem mit Maskeraden ist: Wer sie zu lange aufrechterhält, vergisst sein eigenes Gesicht.

      An diesem Tag war Matthias Caspar exakt so müde, wie er aussah. Dick eingepackt in

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