Die unverhoffte Genesung der Schildkröte. Marc Bensch

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Die unverhoffte Genesung der Schildkröte - Marc Bensch

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des Parkplatzes positioniert hatte. Er wollte den Hinterausgang des Wohnkomplexes jederzeit im Blick haben, damit er, sobald etwas passierte, blitzschnell reagieren konnte.

      Falls die Zielperson herauskäme zum Beispiel.

      Oder falls es nötig wäre, das Handy ans Ohr zu pressen und die Lippen zu bewegen. Damit niemand Verdacht schöpfte, weil er an einem gottverdammten Herbstdepressionstag lethargisch in seinem Auto hockte, während es draußen beständig nieselte und ein nasser Nebel die Stadtlandschaft umhüllte.

      Oder falls er dem Kollegen, der den Vordereingang nicht aus den Augen ließ, per Funk Bescheid geben musste, Bescheid geben durfte, dass sich etwas tat – endlich.

      Aber nichts Derartiges passierte. Immer noch nicht.

      Also starrte Matthias Caspar weiter auf den Hinterausgang, steckte gleichzeitig aber so tief in seinen Erinnerungen, dass er begann, den Erzähler seines Hörbuchs zu missachten. Und aß weiter Pistazien.

      Die, so hatte er im Internet gelesen, seien gesund und würden beim Abnehmen helfen. Das war zwar nicht der erste Grund, warum er sie bei Observationen wie dieser manisch in sich hineinschaufelte – tatsächlich half es gegen das völlige Wegdämmern und er brauchte das Gefühl, etwas zu tun zu haben, wenn er stundenlang nichts Produktives tat. Aber es war eine angenehme Vorstellung, wenn diese eine Tat seinem Körper zugutekam. Denn seit er aufgehört hatte, regelmäßig Sport zu treiben, also seit dem Ende seiner Laufbahn als Polizist vor drei Jahren, war er zum eigenen Entsetzen mehr und mehr in die Breite gegangen, ein Vorgang, dem er hilf- und tatenlos zusah. Hilflos, weil er neuerdings tatenlos blieb. Und tatenlos, weil ihm alle früheren Versuche, dagegen anzukämpfen, bald sinnlos vorgekommen waren und ihm nun der Wille zur kontinuierlichen Anstrengung fehlte.

      Es war ein schwacher Trost, dass jetzt, anders als früher, sein riesiger Kopf wenigstens nicht mehr zu groß für seinen Torso war. Seine Problemzonen hatten sich lediglich nach unten verlagert. Dorthin, wo alte Muskeln verkümmerten und sich neues Fett breitmachte.

      Sein neues Leben, zurück in der alten Heimat, fern der missglückten Karriere, hatte er sich anders vorgestellt.

      Als Kind hatte Matthias Caspar zunächst Rennfahrer werden wollen. Und dann, da war er schon etwas älter, das Gegenteil seines Vaters. Er hätte sich vielleicht damit anfreunden können, wie der Großvater zu werden, aber nicht wie der Vater. Dummerweise hätte er nicht wie sein Großvater werden können, ohne auch ein bisschen wie sein Vater zu sein.

      Die Alternative offenbarte sich ihm an einem brüllend heißen Ferientag im August. Matthias, der es kaum erwarten konnte, vierzehn zu werden, war mit zwei Internatsfreunden mit dem Fahrrad auf dem Weg ins Freibad, dem einzigen Ort, an dem sich die Hitze ertragen ließ. Da kamen ihnen kurz vor dem Ziel zwei Polizeiautos mit Blaulicht und Sirene entgegen.

      »Los, hinterher«, rief Matthias und machte kehrt. Er raste den eben bezwungenen Anstieg wieder hinab. Schneller als seine mühevoll hinterherstrampelnden Kumpels kam er am Tatort an, einer überfallenen Bank, an der es eigentlich nichts mehr zu sehen gab, nicht für ihn und erst recht nicht für die japsenden Kameraden. Der Täter war mit der Beute geflohen, sie schnappten ihn ein paar Tage später. Doch für Matthias zählte nur die Erinnerung an sein Herzklopfen beim Verfolgen des Polizeiwagens, die Erinnerung an den Fahrtwind auf seinem verschwitzten, nackten Oberkörper. Niemals zuvor hatte er sich so wach und so berauscht gefühlt – und Räusche hatte es in diesen Ferien durchaus gegeben, sofern es sich einrichten ließ, bei einem Freund zu übernachten.

      Dieses Gefühl blieb. Von diesem Zeitpunkt an stand für ihn fest, was aus ihm werden sollte.

      In einem Moment höchster Dramatik der Hörbuch-Geschichte, die Matthias Caspar nicht hörte, weil er woanders war, legte der Erzähler alles in die Waagschale, was seine Stimme hergab – und drang durch. Matthias Caspar kehrte in die Gegenwart zurück. Der Regen draußen hatte zugenommen. Ein paar Kinder mit überdimensionierten Schulranzen huschten an ihm vorbei und sprangen – mit Anlauf – in Pfützen. Wenig später sah er ein Großmütterchen im Regenponcho, wie es mit gekrümmtem Rücken zwei Einkaufstüten nach Hause schleppte. Und schon zum zweiten Mal während seiner Observation geriet ein Typ im Jogginganzug in sein Blickfeld, der sich zum Rauchen an die Briefkästen lehnte und mit geschlossenen Augen inhalierte. Die Zielperson aber zeigte sich noch immer nicht.

      Seinen Vorsatz, Polizist zu werden, hatte er zunächst für sich behalten. Erst Jahre später erzählte er, aus einer Laune heraus und weil er ihn ärgern wollte, seinem Vater davon.

      »Du willst Polizist werden? Dass ich nicht lache!«, höhnte der.

      Der Verhöhnte aber ließ sich nicht von seinem Weg abbringen. Auch nicht von seinem Großvater, der ihn auf sanftere Weise zu überzeugen versuchte, einem Einstieg ins Familienunternehmen doch eine faire Chance zu geben und die Tradition fortzuführen. »Dein Vater wird nicht ewig am Ruder stehen. Dann kommt deine Zeit.«

      Er wollte aber nicht warten, bis seine Zeit käme. Schon früh übte er sich darin, Gefühle zu unterdrücken, weil er glaubte, das sei eine wichtige Voraussetzung für einen Job bei der Polizei. Zu seinem eigenen Stolz gelang ihm das wunderbar. Bestärkt bewarb er sich für die Ausbildung zum gehobenen Dienst in der Hauptstadt, die weit genug von seinem Elternhaus entfernt lag und obendrein der Ort sein musste, an dem die Arbeit am spannendsten war. Auf den Eignungstest bereitete er sich mit eiserner Disziplin vor.

      Wenige Wochen später wedelte er seinem verdutzten Vater mit der Zulassung vorm Gesicht herum. »Lachst du jetzt immer noch?«

      Es war der glücklichste Tag seines Lebens.

      Den glücklichsten Tag seines Lebens aber hinter sich zu wähnen, wurde für ihn zur Qual. Vergeblich wartete er darauf, dass ein noch glücklicherer kam und den alten ablöste. Er wartete immer panischer, der Mensch zehrt schließlich von der Hoffnung auf mehr. Gern hätte er behauptet, der Tag seiner Hochzeit sei der glücklichste seines Lebens gewesen. Schließlich hob man gemeinhin diesen Tag auf ein Podest, was viel über das Nachfolgende aussagte: die Ehe also. In der konnte es demnach ja nur noch bergab gehen – was in seinem Fall auch zutraf. An seinem Hochzeitstag war er erfüllt von Liebe zu der Frau, deren Namen er sogar annahm. Freilich war das vor allem ein Seitenhieb, nein: ein Schwinger, gegen seinen Vater, dessen Familiennamen er nicht mehr tragen wollte und auch nach der Scheidung nicht zurücknahm. Doch der glücklichste Tag seines Lebens ? Nein, dieses Prädikat erreichte der Hochzeitstag nicht. Und auch nicht der Geburtstag seiner Tochter, deren Nabelschnur er durchschneiden durfte. Noch so ein Kandidat, noch so eine Enttäuschung, denn beide Tage und die vielen anderen, die das Potenzial besaßen, als glücklichster in seinem Leben zu gelten, hatten alle nur eines gemeinsam: den deprimierenden Gedanken, sich das noch eine Spur emotionaler vorgestellt zu haben.

      All das kam ihm in den Sinn, während er den Hinterausgang des Wohnhauses anstarrte und Pistazien in sich hineinstopfte, bis auch seine zweite Großpackung verbraucht war und die Überbleibsel der vernichteten Kerne im Fußraum rechts neben ihm einen Hügel beträchtlichen Ausmaßes bildeten.

      Drei Stunden später wartete Matthias Caspar noch immer vergebens, mittlerweile nicht nur allein auf die Zielperson, sondern auch auf seine Ablösung, die ihn ebenfalls hängen ließ. Er saß in seinem Wagen und kontrollierte alle sechzig Sekunden sein Handy, ohne eine Nachricht vom säumigen Kollegen zu finden. Seine rechte Hand steckte in seiner Hose und er wackelte hin und her, bis er es irgendwann nicht mehr aushielt. Er schnappte sich die leergetrunkene Wasserflasche neben dem Pistazienhügel und gab sein Bestes, nicht daneben zu pinkeln.

      Hinterher fühlte sich Matthias Caspar zwar erleichtert, glaubte nun aber, das Autodach seines Autos müsse ihm jede Sekunde auf den Schädel fallen. Erneut, zum dritten Mal, sah er den Jogginghosenträger eine qualmen.

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