Die unverhoffte Genesung der Schildkröte. Marc Bensch
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Er verzichtete, fühlte sich überrumpelt durch ihre Art. Dem Bild, das er sich anhand ihres Fotos auf der Unternehmenswebseite gebildet hatte, widersprach sie radikal. Im Internet wirkte sie mit ihrem streng gebundenen roten Haar und dem ernsten Blick wie eine Domina. Nun war sie mehr die Unschuld vom Lande. Ihr Verzicht auf Haarbänder verlieh ihren Sommersprossen und Lachfalten den passenden Rahmen.
Was er nicht weiß, was für dich als Information aber vielleicht ganz interessant ist, um die Pressesprecherin besser einschätzen zu können: Diese Offenheit spiegelt ihr Naturell ziemlich akkurat wider.
Was er wahrscheinlich nie erfahren wird: An ihrem Schlüsselbein trägt sie ein verstecktes Delfintattoo, das sie, sofern ihre Kinder es zulassen und nicht brüllend nach ihr verlangen, morgens im Bad gelegentlich minutenlang streichelt, um ganz ohne Wehmut in vergangene stürmische Zeiten zurückzukehren.
Kurz nach ihr schleppte sich die Personalleiterin ins Zimmer, die das komplette Gegenteil der Pressesprecherin darstellte. Sie war dicklich und zugeknöpft, sah mit ihrem strähnigen Haar und dem vergrämten Gesicht aus wie das Musterbeispiel einer alternden Gouvernante.
»Guten Tag«, presste sie zwischen schmalen Lippen hervor, stellte sich in aller Kürze vor und überließ die Gesprächsführung ihrer plauderfreudigen Kollegin.
Seine Verwirrung war komplett. Das retuschierte Foto der Personalleiterin im Internet ließ sie weitaus sympathischer erscheinen. Er war davon ausgegangen, sie im Sturm zu erobern, dass vielmehr die Pressesprecherin härter zu knacken sei.
Was er nicht weiß: Die scheinbar so mürrische kinder- und partnerlose Dame hat nur einen miesen Tag. In Wirklichkeit ist sie die Lebenslust in Person, lässt keinen Schlagermove aus und singt unter der Dusche aus voller Kehle.
Was er wahrscheinlich nie erfahren wird: Wann immer sie ihn sieht, stellt sie sich vor, ihm diesen kümmerlichen alten Anzug und alles darunter vom Leib zu reißen.
Was ihm im Nachhinein egal sein kann: Die beiden Frauen, die sich als die einzigen weiblichen Abteilungsleiter der Firma bestens verstehen, haben die anfängliche Verunsicherung ihres Bewerbers durchaus registriert. Jede für sich verfügt über eine hervorragende Menschenkenntnis, was wiederum eine krachende Ironie in sich birgt, haben sie doch nicht den blassesten Schimmer, wer ihnen da wirklich gegenübersitzt.
»Na, bricht dein Kartenhaus schon zusammen?«, meldete sich sein innerer Zweifler wieder zu Wort.
Er ignorierte die Häme. Und beschloss, sich zu fangen. Wenn die zwei Good Cop, Bad Cop spielen wollten, sollten sie es tun. Er hatte nicht die ersten Hürden seiner Mission genommen, um so kurz vor dem Zwischenziel wie ein scheues Reh vor dem Gewehr zu erstarren.
Die Selbstgeißelung war erfolgreich. Er riss sich nicht nur zusammen. Er ging regelrecht in seiner Rolle auf. Beim Sprechen bewegte er sich in seinem Stuhl, um nicht steif zu wirken, seine Ausführungen unterfütterte er mit Gestik und Mimik, er philosophierte über Schall und Klang, er lobte den Verkaufsschlager des Unternehmens, obwohl er ihn für üblen Schrott hielt, und er griff, weil er glaubte, das mache einen lockeren, unbesorgten Eindruck, nach einer bereitgestellten Schale mit Schokoladentäfelchen.
Er verzog nicht einmal die Mundwinkel, als er beim Kauen feststellte, dass er sich eines mit Marzipan geangelt hatte.
Eigentlich vertraute Hermann Liebenich der Pressesprecherin und der Personalleiterin vollkommen. Seine Mädels, wie er sie liebevoll und ein wenig chauvinistisch nannte, würden den jungen Mann und die anderen Kandidaten für die vakante Vertretungsstelle einem Stresstest unterziehen, der zeigen würde, ob die Naseweise dem Druck hartnäckiger Journalisten gewachsen wären, einer sensations- und internetklickgeilen Meute, die ein immer distanzierteres Verhältnis zu Wahrheit und Sorgfalt pflegte. Seine Mädels würden sicherstellen, den Job nicht einem zögerlichen Schwächling oder Haderer zu geben, einem Menschenschlag, mit dem Hermann Liebenich nichts anzufangen wusste, der ihn regelrecht aggressiv machte. Es gab für ihn an und für sich also keinerlei Anlass, sich mit dem Bewerbungsprozedere auseinanderzusetzen. Zumal er sich als Vorsitzender der Geschäftsführung und Hauptanteilseigner um existenziellere Dinge zu kümmern hatte.
Hermann Liebenich, Dr.-Ing. Hermann Liebenich, um ganz genau zu sein, war ein Mann von sechsundsechzig Jahren, der längst nicht daran dachte, dass es nun auch mal genug war, er seine Schuldigkeit getan hatte und bedenkenlos in Rente gehen konnte. Er konnte nicht. Weil es niemandem gab, der in seine Fußstapfen treten konnte. Oder wollte. Sein Vater und sein Großvater hatten das Familienunternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet und gemeinsam am ersten Mikrofon geschraubt, er hatte aus Liebenich Acoustics in den vergangenen drei Jahrzehnten einen Global Player geformt. Und durch Zurücklehnen oder Zurückziehen formte man keinen Global Player, sondern durch Anpassungsfähigkeit und eisernen Willen.
Man könnte sich Hermann Liebenich hervorragend als Charakterdarsteller auf einer Bühne vorstellen, zum Beispiel in der Rolle des Julius Caesar. Oder in einem Hollywood-Film als Gangster des zwanzigsten Jahrhunderts, ein würdiger Nachfolger Marlon Brandos. Der Boss von Liebenich Acoustics besaß einen Wohlstandsbauch und ein von Furchen durchzogenes Gesicht. Das ließ ihn, anders als sein ergrauter Schopf, aber weniger alt, sondern vielmehr kampferprobt aussehen.
Das passte. Hermann Liebenich hatte weder Zeit noch Muße, Julius Caesar oder einen Mafioso zu spielen. Er hatte ein Mittelstandsunternehmen zu führen. Er verlangte von jedem, der am Erfolg seiner Firma partizipieren wollte, dieselbe Aufopferungsbereitschaft und Kompromisslosigkeit zum Wohle des Kollektivs. Menschen, die sich ihm in den Weg stellten, egal ob absichtlich oder aus Versehen, mussten damit rechnen, dass er sich vor ihnen aufbaute, dem Begriff Zornesröte eine neue Bedeutung verlieh, seine Augen zu Schlitzen verengte und mit seiner tiefen Stimme polternd Antworten verlangte.
Solltest du ihm jemals begegnen, was durchaus passieren kann, dann erinnere dich an meine Worte. Schreib sie dir hinter die Ohren. Lass dich nicht von ihm einschüchtern. Bleib standhaft. Antworte ihm mit völliger Ruhe und ohne zu stottern. Sonst verliert er jeglichen Respekt vor dir, sonst nimmt er dich nicht ernst.
Und das wäre fatal.
Für den Vormittag der Bewerbungsgespräche hatte Hermann Liebenich ursprünglich geplant, sich eine Strategie zurechtzulegen. Für ein anstehendes Treffen mit politischen Verbündeten und solchen, die es werden sollten, benötigte er einen Schlachtplan, der alle Eventualitäten berücksichtigte. Doch dann waren drei Umstände zusammengekommen, die dafür sorgten, dass er – und das geschah äußerst selten – sich ablenken ließ. Erst hatte er erfahren, dass ein Bürgermeister den Termin kurzfristig abgesagt hatte. Dann war ihm in der Eingangshalle dieser Bewerber über den Weg gelaufen, der ihn, ein Affront erster Güte, nicht gegrüßt, ja nicht einmal wahrgenommen hatte, weil er in eine Plauderei mit der Empfangsdame vertieft gewesen war. Und schließlich hatte an ihm das dumpfe Gefühl genagt, mit dem jungen Mann irgendwann irgendwo schon einmal konfrontiert gewesen zu sein, ohne zu wissen, zu welchem Anlass.
Stirnrunzelnd hatte er ihm hinterhergeschaut, war – auch das kam äußerst selten vor – inmitten der Halle stehen geblieben und dann in sein Büro zurückgeeilt. Nicht, um sich wieder an die Arbeit zu machen, von der es immer genug gab, sondern um alles stehen und liegen zu lassen.
Der Boss hatte das Bewerbungsgespräch zunächst mithilfe der versteckten Überwachungskameras und Mikrofone im Konferenzraum von seinem Computer aus verfolgt, war aber ums Verrecken nicht darauf gekommen, woher er diesen Ludwig Mayer kannte, auch nicht mithilfe der kopierten Bewerbungsmappe.
»Herrgottsakrament«, hatte er geschimpft, verärgert auf seine Schenkel geklopft – und sich aus seinem Chefsessel gehievt.
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