Die unverhoffte Genesung der Schildkröte. Marc Bensch
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Auf dem Tisch lagen frisch gedruckte Ausgaben der Zeitung, fast alle unberührt. Paul Gram konnte es nicht ertragen. Er schnappte sich eine, ließ es rascheln, schlug das Blatt auf und faltete es sich zurecht. Er hatte den Sportteil ohnehin noch nicht gelesen.
Wie jeden Morgen kamen die Lokalredakteure der auflagenstärksten Tageszeitung im Umkreis von hundert Kilometern zur Besprechung und Blattplanung in einem fensterlosen Raum zusammen, den jeder nur »das Loch« nannte – jeder bis auf den Ressortleiter. Zu viel Ablenkung schade der Produktivität, pflegte der zu posaunen, wenn er irritierten neuen Mitarbeitern ganz ernsthaft zu erklären versuchte, warum er die kurz nach der Jahrtausendwende ausrangierte Dunkelkammer als Konferenzzimmer so schätzte. Ein paar gerahmte Titelseiten glorreicher Tage und zwei einsame Urkunden errungener Journalistenpreise zierten die ansonsten kahlen Wände. Wer wie Paul Gram zumindest die letzten Ausläufer der alten Zeiten erlebt hatte und sich anstrengte, dem stieg die Erinnerung an Chemie und die gespannte Ungewissheit des Entwickelns in die Nase und zu Kopf. Alle anderen mussten mit dem überbordenden Karamellduft Vorlieb nehmen, den die miesepetrige Redaktionsassistentin versprühte.
»Gute Arbeit, vielen Dank für deinen Einsatz«, nuschelte der Ressortleiter schließlich und versuchte es mit einem Lächeln, gegen das sich die Polizeireporterin immun zeigte.
»Ich finde, wir sollten über den Tatverdächtigen sprechen«, mischte sich der Volontär ein. »Wir haben jetzt schon ein Dutzend Leserkommentare, weil wir angeblich Informationen unterschlagen. Der Typ, den sie festgenommen haben, ist ja wohl ein Flüchtling.«
Die Polizeireporterin seufzte. »Vernommen haben sie ihn, nicht festgenommen. Er ist offiziell kein Beschuldigter.«
»Aber die Konkurrenz hat …«, setzte der Volontär erneut an. Er war ein Kerl mit langen, schwarzen Haaren, die ständig sein halbes Gesicht verdeckten, ohne dass sie seine geisterhafte Blässe oder sein unkontrollierbares Akne-Problem verschleiern konnten. Paul Gram vermutete, der Volo zähle zu der Art Mensch, die es liebte, gehasst zu werden, weil er darin ein untrügliches Zeichen sah, in den Augen der anderen eine Bedrohung darzustellen. Dabei war er einfach nur furchtbar altklug und überheblich.
Die Polizeireporterin ließ ihn nicht aussprechen. »Ich bin vielleicht altmodisch, aber ich halte mich an Fakten. Punkt. Und jetzt muss ich los zur PK.«
»Gut, du schaffst doch die Online-Aktualisierung bis um zwei, oder? Und die Aufmacher-Reportage morgen, ja?«
Der Ressortleiter war ein Meister darin, Fragen wie Aufforderungen klingen zu lassen. Seine rasende Reporterin ließ die Tür zum Loch ins Schloss krachen, ohne vorher eine Antwort zu geben.
Kaum war sie draußen, schmückte ein Grinsen sein Gesicht. »So oder so. Die neuesten Klickzahlen sind fantastisch.« Das gesagt, schnappte er sich eine Zeitung und blätterte rasch. »Okay, hat noch jemand was zur heutigen Ausgabe? Nicht? Gut. Was machen wir morgen sonst noch?«
Einige schläfrige Kollegen zuckten hoch, als die schrille Stimme der Lifestyle-Beauftragten den Raum erfüllte.
»Im Zoo stellen sie heute die neuen Löwenbabys vor«, rief das Redaktionsnesthäkchen. Seit mittlerweile eineinhalb Jahren vernachlässigte die dauerbeschäftigte freie Mitarbeiterin ihre Magisterarbeit zugunsten ständiger Spät- und Wochenendschichten. Die Aussicht auf ein Volontariat hatte das bislang nicht verbessert. Eine flotte Schreibe und ihre quietschfidele Art zeichneten sie aus. An diesem Vormittag jedoch hatte Paul Gram den Eindruck, als sei sie unsicher und nervös. Immer wieder suchte sie den Augenkontakt mit dem Ressortleiter, der das genauso konsequent ignorierte wie Forderungen von Polizeireporterinnen nach einem freien Tag. Ob es da wohl einen Zusammenhang mit der Tatsache gab, dass sie dieselben Klamotten wie am Tag zuvor trug?
»Großartig. Das ist unsere zweite große Geschichte«, rief der Ressortleiter und schaute sie nur ganz kurz an.
»Was ist mit meiner Wohnungsnotstory? Die schieben wir jetzt schon seit Tagen«, erkundigte sich der Mann für die sozialen Themen und brachte beim Vorlehnen seinen tapferen Stuhl zum Ächzen. Mit Mitte fünfzig zählte er zu denen, die zu alt für den Wandel und zu jung für die Rente waren.
»Schieben wir noch mal. Das musst du doch verstehen. Wir haben schon den Mord und die Tierbabys. Wir sollten nicht alles auf einmal verbraten.«
»Das muss aber bald mal mit. Sonst ist das kalter Kaffee.«
Es war ein halbherziger Protest, und Paul Gram kam nicht umhin, Mitleid zu hegen für den Kollegen, dessen Aura er einst bewundert hatte. Damals, vor fast zwanzig Jahren, als die träumerische Jungversion von Paul Gram mit einem Abischnitt von 3,2 und einer Überdosis an Selbstvertrauen in die Redaktionsstube gestiefelt war, um fortan das zu tun, wofür er sich geschaffen wähnte: Geschichten zu erzählen.
Paul Gram nahm in jüngster Zeit nur noch selten an den Blattkonferenzen teil, und wann immer er es tat, wusste er wieder, warum er es sonst vermied. Doch das vorangegangene Wochenende hatte ihn in einer derart blendenden Laune hinterlassen, dass er beschlossen hatte, es sei mal wieder an der Zeit für eine Stippvisite. Entzückt vom dichten Nebel und vom Nieselregen hinterm Fenster war er am Sonntag früh aus dem Haus gegangen und in das Auto gestiegen, das er sonst nie benutzte, weil er den Kontakt zu Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln schätzte. Sie inspirierten ihn zu neuen Ideen.
An diesem Morgen jedoch hatte er sich nach totaler Einsamkeit gesehnt und deshalb das vermeintlich schlechte Wetter gepriesen, das laut Vorhersage noch ein paar Tage in dieser Form anhalten sollte. Er war an den Fuß einer Bergkuppe eine halbe Stunde außerhalb der Stadt gefahren und hatte sich bepackt mit einem Rucksack auf gen Gipfel gemacht, zu den eingestürzten Gemäuern einer mittelalterlichen Burg. Dort hatte er sich niedergelassen, eine Packung Paprikachips herausgeholt und genossen, dass das einzige Geräusch in seiner Nähe dem Mahlen seiner Zähne entsprang. Nach einer halben Stunde war er den Berg wieder hinuntergestiegen und nach Hause gefahren, zu zwei Cheeseburgern mit extra Bacon und Fritten vom Lieferservice.
Stille, fand Paul Gram, konnte wundervoll sein. Er musste sich ab und zu von dieser sonderlichen Welt absondern, um nicht Gefahr zu laufen, dem allgemeinen Wahnsinn zu verfallen.
Deshalb wollte er nach der Redaktionskonferenz auch schnellstens in seine drei mal zwei Meter große Bürozelle fliehen, die er als Luxus empfand, weil er sie mit niemandem teilen musste. Doch als die mürrische Runde auseinanderging, hielt ihn der Ressortleiter auf.
»Du Paul, ich hab’ da was mit dir zu besprechen. Muss zwar gleich weiter zur Sitzung des Digitalen Arbeitskreises, aber ein paar Minuten habe ich. Du auch?«
Er hätte so gern nein gesagt.
»Für dich habe ich immer Zeit.«
Paul Gram musterte den Ressortleiter aus seinen tiefblauen Augen heraus und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob der eigentlich die leiseste Ahnung hatte, für was für einen Schaumschläger er ihn hielt.
Es war ihm noch immer unbegreiflich, warum der Schaumschläger so vielen als Wunderknabe galt, vor allem jenen, die es aus zuweilen unersichtlichen Gründen zu Entscheidungsträgern gebracht hatten. Sie vergötterten den Jungen, der mit vierundzwanzig sein eigenes Onlineportal mit lokalen News gegründet hatte und seitdem wie ein Derwisch durch die Branche fegte. Dabei hatten die großen Verleger ihn anfangs noch belächelt und erst reagiert, als aus dem Zwergenmogul ein ernsthafter Konkurrent geworden war. Zu viele Leser hatten ihr Zeitungsabo mit dem Hinweis gekündigt, sie würden von nun an lieber auf unabhängige (und obendrein kostenlose) Nachrichten vertrauen. Der Verlag hatte das Portal