Delikatessen für die Sinne (Band 1). Jutta Dethlefsen
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Nach dem Abendbrot und dem Heimgang der Freunde erlaubte Mutter ihren Kindern noch zwei weitere Stunden, um den Tag ausklingen zu lassen.
Klara und Christopher waren in den kleinen Primelwald gegangen, der sich gleich an ihren Garten anschloss. Klara hatte dem Wäldchen den Namen gegeben, weil sie dort vor Jahren eine himmelblaue Primel entdeckt hatte. Im Jahr darauf war die Blume verschwunden.
Die glutroten Strahlen der untergehenden Sonne durchdrangen vereinzelt das dichte Blattwerk, um auf dem Waldboden ein farbenprächtiges Lichtermeer zu zeichnen. Christopher nahm Klaras Hand fest in seine, wusste er doch, dass sie sich leicht fürchtete. Gleichzeitig genoss sie es, wenn eine Situation aufregend, gruselig, schön und spannend war, das Herz schneller klopfen ließ und Christian sie beschützend an die Hand nahm.
Nur das Knacken dünner Äste unter ihren Füßen war zu hören.
Klaras linker Fuß verfing sich in der Wurzel eines umgestürzten Baumes. Sie stolperte und fiel so unglücklich, dass die Bluse über ihrer Brust zerriss, Zweige hinterließen blutige Striemen. Sekundenlang starrte Chris untätig auf sie herab, bevor er ihr half aufzustehen.
Seine Hände verbrannten ihre Haut. Sein Blick verriet Ungläubigkeit. Ohnmächtig die Berührung zu lösen, schaute er sie erschrocken an. Da umschlang Klara ganz fest seinen Nacken, so wie sie es schon tausendmal zuvor getan hatte und doch war es anders. Mit ungläubigem Blick half Christopher seiner Schwester sich hinzusetzen und den Kopf gegen einen Baumstamm zu lehnen. Wortlos setzte er sich neben sie, bettete seinen Kopf auf ihrer Schulter.
Seine Lippen berührten erst zaghaft ihren Hals, dann ihr Gesicht und ihre Brust, um zurückzufinden, zu ihrem Mund und sich dort endlos zu verlieren im Spiel ihrer Zungen. Klara fühlte sich zu den Sternen getragen, ihre Hände liebkosten den Bruder, hielten auf seinen Wangen inne, als sie fühlte, dass er weinte.
Der Primelwald, der Ort ihrer kindlich verspielten Nachmittage, der Ort der Cowboy- und Indianerspiele hatte für sie eine andere Bedeutung bekommen.
Es dunkelte, als sie schweigend nach Hause gingen.
An den folgenden Tagen vermied Christopher es, längere Zeit mit Klara allein zu sein. Sie verstand ihn nicht. Warum? Sie wollte nicht wahrhaben, dass Berührungen, die so wundervolle Gefühle hervorriefen, verboten sein sollten, weil sie Geschwister waren. Gefühle, die nur ihnen gehörten! Sein Verhalten schmerzte sie. Schämte er sich? Sie liebten sich doch, hatten sich schon immer lieb gehabt. Wo war denn da der Unterschied? Für Klara gab es ihn nicht. Sie empfand keine Scham. Jahrelang hatten sie sich berührt, sich im Bett aneinander gekuschelt, waren fest umschlungen eingeschlafen.
Und doch, etwas war anders. Aber was genau war es? Warum sollte oder durfte es nicht sein?
Es verging eine Woche, bis Klara die Möglichkeit fand, mit Christopher darüber zu reden.
Mutter war ins Konzert gegangen. Sie waren allein im Haus. Er konnte ihr nicht mehr ausweichen. Von Klara kam die traurige, uralte Frage: »Liebst du mich denn nicht mehr?« Christopher schaute seine Schwester unglücklich an und zog sie mit einem leisen Aufschrei in seine Arme.
Grenzenlose Liebe überkam Klara. Nun wollte sie seine jahrelange Aufgabe übernehmen, wollte ihn trösten und beschützen. Während ihre Hände seinen Rücken streichelten, flüsterte sie besänftigende Worte. Aber es gelang ihr nicht, ihn zu beruhigen. Da nahm sie zum ersten Mal ihren Bruder an die Hand, führte ihn in sein Zimmer und zu seinem Bett.
Die folgenden Zärtlichkeiten waren selbstverständlich, waren Gesetz und unabwendbar. Sie hatten nicht die Leidenschaft füreinander entdeckt, sie waren die Leidenschaft, überirdisch, kraftvoll und unverwundbar. Die Suche nach der absoluten Nähe ließ keine andere Handlungsweise zu. Auch der Schmerz gehörte ihnen.
Monate vergingen.
Immer wieder lag Klara in den Armen ihres Bruders.
Sie war glücklich.
War er es auch? Sie versuchte in der Dämmerung des späten Abends oder des frühen Morgens, seine Miene zu deuten.
Die Lippen in ihr Haar gepresst, flüsterte er unzählige Male: »Es darf sich nicht wiederholen, Krümel, es darf nicht sein.«
Klara sagte nichts, wusste sie doch, es würde sich wiederholen, immer und immer wieder, bis ans Ende ihrer Tage. Da war sie sicher! Sie konnte auch nichts Unrechtes daran entdecken. Lächelnd schmiegte sie sich an ihn und glaubte an eine gemeinsame, glückliche Zukunft.
Die beiden bewahrten ihr Geheimnis gut. Der Übergang von der geschwisterlichen Zuneigung in eine intensive Liebesbeziehung blieb der Mutter verborgen. Ihr Arbeitsplatz an der Rezeption eines Hotels erforderte häufig ihre häusliche Abwesenheit bis nach Mitternacht. Klassenkameraden der Geschwister spürten zwar eine Veränderung, eine Isolation, maßen ihr aber keine weitere Bedeutung bei. Die Geschwister genügten einander. Nicht allein die körperlichen Berührungen fesselten sie, sondern vielmehr das Bedürfnis miteinander zu erfahren, zu gestalten und beieinander zu sein.
Die inzwischen vierzehnjährige Klara hatte eine Idee. Sie wollte mit ihrem Bruder fortgehen in ein fremdes Land, wo niemand wusste, dass sie Geschwister waren. Kindliche, unrealistische Träume, die ihre Liebe beschützen sollten.
Christopher war fast neunzehn Jahre, ein attraktiver, verschlossener, junger Mann, kurz vor dem Abitur. Die Mädchen umschwärmten ihn. Vielleicht gerade, weil er sich so unnahbar und unerreichbar gab.
Klara war nicht eifersüchtig, sie war sich seiner und ihrer Liebe so sicher. Niemals würde er sich einem anderen Mädchen zuwenden, das wusste sie genau. Es war schließlich schon immer so und würde auch immer so bleiben.
Es war ein Sonntag. Am Morgen ließ noch nichts die Tragödie ahnen.
Aber als Christopher erklärte, er wolle mit Schulfreunden den Nachmittag verbringen, um gemeinsam an einem Referat zu arbeiten, wurde Klara zum ersten Mal misstrauisch, denn sein Ton war ihr fremd. Ein für sie unbekanntes Gefühl, eine Mischung aus Verlustangst und Ungläubigkeit überkam sie. Sie sagte zwar nichts, schaute ihn nur ernst an. Er vermied ihren Blick.
Die Mutter hingegen, völlig ahnungslos, begrüßte das Vorhaben. Christopher durfte und sollte die Verantwortung für seine kleine Schwester längst abgelegt haben. Sie war ihrem Sohn so dankbar. Er hatte es ihr in der Vergangenheit ermöglicht, beruhigt der erforderlichen Arbeit im Hotel nachzugehen.
Am frühen Nachmittag verschwand Christopher. Klara spürte immer deutlicher, dass etwas nicht stimmte. Christopher verlangte es in letzter Zeit spürbar seltener nach ihrem gemeinsamen Sex, er versuchte, es beim Kuscheln zu belassen.
Bald nach seinem Aufbruch radelte Klara ziellos durch den Ort. Sie suchte ihn, ihr Herzschlag beschleunigte sich, eine diffuse Angst hatte von ihr Besitz ergriffen. Ihren Bruder oder sein Fahrrad entdeckte sie nicht. Systematisch fuhr sie die Wohnungen seiner Klassenkameraden ab, soweit ihr diese bekannt waren. Erfolglos!
Sie sah Jörg an der Eisbude stehen. Er war mit Christopher im letzten Jahrgang der Oberstufe. Sie fragte ihn nach ihrem Bruder. Er grinste, hob kurz die Schultern, um dann mit dem Daumen in Richtung Primelwald zu zeigen.
Etwas