Delikatessen für die Sinne (Band 1). Jutta Dethlefsen
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»Ich tue es für dich, Christopher, ich tue es für uns«, flüsterte sie, bevor sie nach Hause radelte.
Das weitere Geschehen erlebte Klara wie einen Film im Schnelldurchlauf.
Das Martinshorn eines Krankenwagens!
Den Anruf!
Später Chris, völlig verstört und verzweifelt.
Zeitungsreporter.
Polizei und Befragungen.
Die Eltern des Mädchens.
Die Beerdigung, zu der Chris nach Hamburg fuhr und von der er völlig verändert zurückkam.
Er brach das begonnene Medizinpraktikum ab und ging zum Studium nach München.
Klara verstummte. Ihr war klar, dass Christopher wusste, wer die Bremsleitung manipuliert hatte. Aber er sagte nichts. Aus Feigheit? Aus Angst? Oder war es sein letzter Liebesbeweis für sie? Wie gerne hätte sie ihm gesagt, dass sie das nicht gewollt hatte, dass sie sich völlig verrannt hatte in ihrem zerstörerischen Hass. Sie hatte überhaupt nicht an den unbeschrankten Bahnübergang in der Feldmark gedacht, nicht an die Möglichkeit tödlicher Verletzungen.
Oder doch?
Warum war in dem Moment auch gerade der Zug aus Hamburg gekommen? Ausgerechnet aus Hamburg!
Christopher war fort. »Krümel«, hatte er nur zum Abschied gesagt, nicht mehr. Dennoch klang es für sie wie ein Verzeihen. Sein Blick war unendlich hilflos und traurig.
Klara litt. Schuldgefühle höhlten sie aus, nagten in ihr wie gefräßige Bestien. Es war der Kummer, den sie ihrer Mutter bereitet hatte, die die Trauer des Sohnes teilte. Der Schmerz, den sie ihrem Bruder, dem Mann, den sie über alles liebte, zugefügt hatte. Der unerträgliche Verlust. Sie erstarrte. Aber sie schwieg, verschwieg auch ihre Schuld. Für ihn, für die Mutter, glaubte sie.
Erholsamer Schlaf wollte sich nicht mehr einstellen. Wie sollte sie leben, wenn ein Mensch durch ihren Hass gestorben war?
Von Zeit zu Zeit kam ein Brief von Christopher, belanglose Zeilen.
Sie hatte begriffen, dass sie ihm nicht nach München folgen durfte, dass sie ihm die Chance lassen musste, ein neues Leben zu beginnen.
Auch später in der Klinik schwieg Klara beharrlich. Nur wusste sie jetzt, dass sie selbst den Zeitpunkt bestimmen konnte, zu dem sie die Last niederlegte. Sie hatte sich ja für das Leben entschieden.
Jemand löschte das Licht.
BOXERSHORTS
Ich kann Boxershorts nicht ausstehen. Diese unförmigen, amerikanischen Unterhosen finde ich schrecklich. Sie sind Liebestöter wie die Doppelripp aus Baumwolle mit angeschnittenem Bein und Eingriff.
Wenn Carsten morgens mit so einer Unterhose bei mir im Bad auftaucht, verdrehe ich innerlich die Augen. Man stelle sich vor: Einen Riesen mit einer verwaschenen, unter dem leichten Wohlstandsbauch gehaltenen Zeltplane bekleidet. Ein schwangerer Bauch ist viel anziehender!
Diese unerotische Unterhose, die sämtliche Hormone in die Flucht treibt, war, wie noch eben zu erkennen, einmal mit bunten Punkten versehen. Sie war bestimmt ein Weihnachtsgeschenk von seiner Mutter. Carsten liebt Punkte, außer beim Kraftfahrtbundesamt. Punkte auf Socken und Krawatten, auf Bürotassen und Zahnputzbechern. Er sagt, als Erstes wären ihm meine runden Sommersprossen aufgefallen, Punkte eben, braune Punkte.
Da steht er, gähnt herzhaft und zeigt mir seine Amalgamfüllungen und ein tanzendes Zäpfchen im Rachen. »Die Füllungen sollte er austauschen lassen«, denke ich. »Wer trägt heute noch so viel Gift im Mund, außer meiner Schwiegermutter, die verspritzt das Gift dann ständig.«
Gedankenverloren krault er sich mit der einen Hand in den Haaren auf seiner Brust. Es erinnert an die Streicheleinheiten, die er Paula, unserer Katze jeden Abend zukommen lässt. Die andere Hand hängt schlaff herunter, ein momentan unbrauchbares Anhängsel.
Wie behaart Carsten ist! Kein Mensch muss diese Wolle am Körper tragen, seit es Zentralheizungen gibt.
Wenigstens hat er keinen Mundgeruch, wenn er mir geistig abwesend den obligatorischen Morgenkuss verpasst. Einmal erwischt er dabei meine Stirn, einmal die Nase oder das Ohr, einmal den Nacken. Den Unterschied, scheint er nicht zu bemerken.
Beim Frühstück sieht er dann passabel aus, glaube ich. Das meiste von ihm verbirgt sich ja hinter der Zeitung.
»Tschüss Liebling, bis heute Abend«, begleitet mich sein täglicher Refrain auf meinem Weg ins Bad, ins Schlaf- oder ins Wohnzimmer. Hier räume ich zähneknirschend die unzähligen Andenken weg. Haare vom Rasieren im Waschbecken, Haare in der Dusche, Zahnpasta am Becherrand, festgeklebt wie Zucker an einem Cocktailglas.
Eine Socke, selbstverständlich gepunktet, auf der obersten Treppenstufe, die andere hängt noch im Hosenbein der Jeans.
Wenigstens ist die Jeans nicht gepunktet.
Im Wohnzimmer ein Weinglas, eine Weinflasche, Zeitschriften und eine leere Chipstüte.
Und im Keller, zur Krönung, eine gepunktete, amerikanische Unterhose, aber auf dem Schmutzwäschebehälter, immerhin.
Neeeiiinnnn!
Ich stelle das Radio an, Welle Nord, Schmusemusik für Verliebte. Sehnsüchtig lausche ich den Klängen und den Texten. Warum darf ich nicht noch einmal so etwas Aufregendes erleben? Noch einmal jemandem mit Herzklopfen gegenüberstehen.
Da kommt mir eine Idee. Wo ist die Samstagzeitung? Ah, im Papiercontainer. Ich finde sie, die Seiten mit den spannenden Kontaktanzeigen.
Was die so schreiben! Wahnsinn! Viele versprechen Leidenschaft und Zärtlichkeit, die ich so sehr vermisse. Aber die meisten sind 30, oder um die 40 und ich bin, geschmeichelt, um die 60, nein, eigentlich in den Siebzigern.
»Weiterlesen«, sage ich mir, »jetzt nicht aufgeben. So also ist das. Offensichtlich suchen nur ganz besonders tolle Mannsbilder Bekanntschaften auf diesem Wege. Komisch, warum bin ich nicht schon früher einmal darauf gekommen?«
Ich werde selbst eine Anzeige aufgeben, natürlich! Da kann ich mich gut darstellen und Suchkriterien berücksichtigen wie im Supermarkt.
Etwa so: schlanke, junge, nein jung gebliebene Frau. Konkrete Altersangabe lasse ich weg.
Attraktiv. Nein, wie blöd und eingebildet, besser: ansehnlich und sympathisch. Das sind herrlich dehnbare Begriffe.
Kunst- und kulturinteressiert. Das schreiben alle, aber na gut.
Gebildet. Gebildet? Ich kann manchmal nicht vollständig das tägliche Rätsel in der Tageszeitung lösen, egal.
Ungebunden, das ist wichtig. Aber es stimmt ja nicht. Besser ich schreibe: mit viel Freizeit.
Sportliche Natur- und Tierliebhaberin. Nein, das geht auch nicht. Womöglich meldet sich ein Steilwandkletterer mit Kampfhund.
Und nun zu