Delikatessen für die Sinne (Band 1). Jutta Dethlefsen
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Am Primelwald angekommen, sah sie sofort Christophers Fahrrad gegen eine junge Birke gelehnt. Aber da war nur ein Fahrrad, wieso? Wo waren die Fahrräder der Freunde? Klara legte ihr Rad ins Gras und betrat den Wald.
Mit schlafwandlerischer Sicherheit schlug sie die Richtung zu dem Platz ein, wo sie an Chris siebzehntem Geburtstag gestürzt war. Wo sie sich zum ersten Mal darüber klar geworden war, dass nichts und niemand sie von Christopher je trennen konnte oder durfte.
Schon bevor sie diesen Ort erreichte, hörte sie von dort Geräusche, deutlich die vertraute Stimme ihres Bruders und eine fremde, weibliche.
Klara presste die Hand auf den Mund, um nicht aufzuschreien.
Sekundenlang blieb sie stehen, dann zog sie die Sandalen von den Füßen und schlich näher an die beiden heran.
Die Situation war eindeutig. Ein fremdes Mädchen lag dort. Ausgerechnet dort und in den Armen von ihrem Christopher! Sie entweihten ihren Ort. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen schaute Klara gebannt auf die für sie unfassbare Szene.
Das Mädchen war schön und deutlich älter als Chris. Ihre makellosen, langen, nackten Beine waren eng mit seinen verschlungen. Sie lagen nebeneinander, streichelten sich und flüsterten zärtliche Worte. Manchmal war das helle Lachen der Fremden zu hören.
Es dauerte eine Weile, bis Klara sich von dem Anblick lösen konnte. Das Erschrecken hatte sich in Gefühllosigkeit verwandelt. Sie schlich zurück zu ihrem Fahrrad.
Der Schock löste sich. Im Takt mit dem Tritt auf die Pedalen schrie ihr Herz immer und immer wieder: »Ver-rat, Ver-rat, Ver-rat!« Wie konnte das geschehen? Warum verriet er ihre Liebe? Nein, nicht er. Sie, die Fremde war schuld.
Klara schlich in ihr Zimmer. Wartete auf die erlösenden Tränen, die nicht kommen wollten. Später kühlte sie im Bad das brennende Gesicht und den rasenden Puls. Sie legte sich ins Bett und starrte an die Decke.
Da Mutter Klaras Heimkommen nicht bemerkt hatte, schaute sie in deren Zimmer, um mit ihr zu plaudern und ihr eine gute Nacht zu wünschen. Ihre Tochter lag zitternd da, Unverständliches redend, die Bettdecke bis unter das Kinn gezogen.
Der herbeigerufene Arzt diagnostizierte eine beginnende fiebrige Erkältung, Mutter nahm sich einen Tag frei, brachte Zwieback und Kamillentee. Klara erbrach jede Nahrung.
Erst zwei Tage später ließ sich Chris an ihrem Krankenbett sehen, schweigend. Er ahnte, was Klara gesehen hatte. Liebevoll, mit besorgtem Blick hielt er ihre Hände. Auch sie sagte nichts und hielt die Augen geschlossen. Er erhob sich, um das Zimmer zu verlassen. Klara wollte, dass er ihr das Geschehene erklärte. Sie rief ihn zurück. Sein Blick war schuldbewusst. Seltsamerweise wirkte das tröstend und gleichzeitig erschreckend auf sie. Zögernd setzte Chris sich wieder auf die Bettkante.
Mit zitternder Stimme begann Klara das Gespräch: »Ich weiß alles, Chris.« Er nickte, nahm wieder ihre Hände, um sie zaghaft zu streicheln.
Dann sprach er darüber, wie sehr er darunter litt, verbotenerweise seine Schwester zu lieben und zu begehren. Dass es nie mehr geschehen dürfe und würde.
Er wollte ja immer für sie da sein, er würde sie immer lieben. Niemand könnte ihren Platz in seinem Herzen einnehmen. Aber berühren würde er sie nur noch, wie eben ein Bruder seine Schwester berühren darf. Ja, er liebte seit Kurzem eine junge Frau. Für diese Liebe müsse er sich nicht schämen. Sie hatte nichts Verbotenes, er bräuchte sie nicht zu verheimlichen.
Was zwischen Klara und ihm geschehen war, sollten sie beide als großes Geheimnis bewahren, schon aus Rücksicht auf die Mutter. Es wäre gut und richtig, wenn auch Klara sich einem anderen jungen Mann zuwenden würde.
Klara schwieg. Christopher erhob sich müde und verließ das Zimmer.
Sie hatte ihn verstanden, aber etwas in ihr weigerte sich, die Worte zu begreifen.
Kaum etwas behielt ihr Magen bei sich, sie verlor an Gewicht. Der Arzt war ratlos. Christopher pflegte sie aufopferungsvoll, gab ihr löffelweise zu trinken. Manchmal las er ihr vor, Kindermärchen, die sie noch immer so liebte. Manchmal trocknete er mit einem Bettzipfel behutsam ihre lautlosen Tränen. Sie aber vermisste schmerzlich diese anderen Berührungen von ihm.
Irgendwann siegte der Überlebenswille. Sie behielt die Nahrung wieder bei sich und verließ das Bett. Christopher half ihr bei den ersten Gehversuchen. Er und Mutter waren glücklich über die Genesung.
Doch etwas in ihr war zerbrochen.
Christopher sprach nie mehr über seine Freundin. Er war liebevoll und aufmerksam zu Klara, vermied aber jede körperliche Berührung.
Sie besuchte schon seit geraumer Zeit wieder die Schule, da sah sie die Fremde noch einmal. Klara musste an der geschlossenen Bahnschranke warten. Die Fremde stieg aus dem Zug, der aus Hamburg kam, dann fiel sie dem wartenden Christopher in die Arme. Sie hatte ihr Fahrrad dabei. Ein Bahnbediensteter hob es gerade aus dem Zug. Christopher wirkte glücklich.
Er lachte und küsste sie, dann verließen sie den Bahnsteig.
Der Anblick kam für Klara völlig überraschend und war unerträglich. Sie war zufällig in der Nähe des Bahnhofs gewesen, hatte nicht spionieren wollen.
Trauer spürte sie, aber auch noch ein anderes Gefühl.
Im Widerstreit zum Schmerz erfüllten sie auch Wut und Hass.
Zorn auf diese Frau, die ihren Bruder verführt hatte. Ihren Christopher, der sich jetzt bestimmt elend und schuldig fühlte. Diese Frau hatte alles vernichtet, was gut war. Hatte Christophers und ihr Leben zerstört, ihnen die Perspektive gestohlen, alles, wofür es sich zu leben lohnte! Diese Gedanken manifestierten sich, wurden für Klara augenblicklich zur unumstößlichen Wahrheit.
Rachegedanken folgten. Sie musste die andere loswerden. Die müsste nur aus seinem Leben verschwinden, und alles wäre wieder wie früher. Sie wollte, ja sie musste Christopher von dieser Frau befreien. Sie musste ihn retten.
Dann würde ihm endlich klar werden, wozu Klara für ihre Liebe bereit war, und er würde zu ihr zurückkehren. Nicht einen Augenblick zweifelte sie an der Richtigkeit ihrer Gefühle und Gedanken. Sie lächelte glücklich überzeugt. Dass ihr diese einfache Lösung nicht früher eingefallen war!
Sie hatte eine Idee. Und nichts und niemand würde sie daran hindern, diese sofort zu verwirklichen. Die Fahrräder würden nachher bestimmt wieder vor dem Primelwald stehen. Sie wollte dann hinfahren und handeln.
So war es. Die Fahrräder standen nebeneinander, als wenn selbst sie zusammengehörten und Klara verhöhnten. Sie dachte an die Fremde, die jetzt wieder in Christophers Armen lag. Klaras Hass stieg ins Unermessliche. Diese Frau war eine Prüfung für ihre Liebe, und ohne Klaras Hilfe würde Christopher diese Prüfung nicht bestehen. Dieser Fremden würde das Lachen vergehen, sie musste bestraft werden, hatte betrogen und gestohlen.
Klara schaute sich das Fahrrad der verhassten Fremden an. Es war ein Sportrad ohne Rücktrittsbremse. Zielgenau durchtrennte Klara die Bremsleitung. Nicht eine Sekunde kam es ihr in den Sinn, dass sich zwischen Chris und der Fremden durch einen Unfall möglicherweise gar nichts ändern würde. Sie war von der Richtigkeit ihres Handelns überzeugt. Nach so einem Unfall würde die bestimmt nicht wieder auftauchen.
Das Taschenmesser verstaute sie wieder in ihrer eigenen Satteltasche. Mit schwarzem Isolierband