Delikatessen für die Sinne (Band 1). Jutta Dethlefsen
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Mutter hatte bislang verzweifelt versucht, ihn durch Stillen am Leben zu erhalten. Hunger, Leid und Ängste hatten diesen Lebensquell nun bei ihr versiegen lassen.
In dem Dorf, in den Tiefen der Bremer Moore, war kein Arzt zu erreichen. Die kleine Flamme erlosch in den Armen unserer schwangeren Mutter. Seine verkrüppelten Füßchen hatten ihre embryonale Stellung beibehalten. Unser Bruder hätte wohl nie laufen können, vielleicht ist ihm viel Demütigendes erspart geblieben.
Zwei Tage war Mutter mit einem geliehenen Fahrrad unterwegs, um einen Kindersarg zu bekommen. Sie wollte Christian nicht ohne schützende Hülle in die kalte, fremde Erde legen.
Und sie kam mit einem Sarg zurück. In diesem begrub sie nicht nur unseren Bruder, sondern auch das Erlebte vom Vortag. Der Kindersarg unter ihrem Arm und ihr schwangerer Leib hatten den Mann, dem sie im Moor begegnete, nicht davon abgehalten, sie zu Boden zu werfen, um ihr Gewalt anzutun.
Sie hatte nie darüber gesprochen.
Mutter, meine beiden Geschwister, meine Großmutter und die unverheiratete Tante zog es in Richtung Hamburg. Mutter sah in dem kleinen Dorf im Bremer Umland keine Zukunft für ihre Kinder. In einem Ort in Schleswig Holstein, in dem ich später geboren wurde, bekamen sie Wohnraum in einer Holzbaracke.
Ich kann mich daran erinnern, dass wir jeden Abend gemeinsam am Tisch und sonntags in der Kirche für unseren toten Bruder und für unseren Vater beteten. Ich spüre noch heute Mutters Hände, die dabei meine umschlossen. Wir beteten für die mir unbekannten Personen, die dadurch im Laufe der Zeit etwas vertrauter wurden. Damals haderte ich mit Gott, weil er die beiden zu sich genommen hatte, und meine Mutter dadurch zum Weinen brachte.
Ich sehe sie in der Nachkriegszeit über ihren spärlich gefüllten Teller gebeugt und höre ihre Worte: »Guten Appetit, Kinder, die Schüssel darf geleert werden. Ich habe keinen Hunger.«
Meine Schwester antwortete auf meine kindlichen Fragen nach unserem Vater lakonisch, sie fürchte, es hätte Papa und Christian nicht mehr gefallen in dieser Armut bei uns. Sie wären in eine bessere Welt gegangen.
In eine bessere Welt? Meine Schwester um weitere Erklärungen zu bitten, traute ich mich nicht mehr.
Ich kam in die Schule, lernte schnell und erhielt gute Noten. So erfuhr ich Bewunderung als Ausgleich für die Mängel, die meine Mitschülerinnen rasch herausgefunden hatten. Im Ort gab es keine weiteren Flüchtlinge, nur Bauern, die durch den Krieg keine Entbehrungen erfahren hatten.
»Schau mal, wie dünn die ist, die haben nichts zu essen. Ihre Mutter muss den ganzen Tag arbeiten gehen. Ganz arm sind die«, hieß es, »die haben auch keinen Papa, sondern nur eine Oma zu Hause.«
»Die haben ja nicht einmal einen Papa.« Das traf mich tief, war viel schmerzhafter als der Hunger, verletzte mich und hinterließ ein Gefühl, als wäre ich schuldig geworden.
Worin lag denn meine Schuld? Was hatte ich, was hatten wir getan? Hatte der Vater uns verlassen, weil man es mit uns nicht aushalten konnte? Waren wir schlechte Menschen?
Ich wagte es nicht, mich Mutter anzuvertrauen, spürte, wie sehr es auch sie verletzen würde.
Nach dem Wechsel auf eine höhere Schule, gingen Freunde und Mitschüler wesentlich gelassener mit der Tatsache um, dass ich keinen Vater hatte und auch nur wenig über ihn wusste.
Aber tief in mir blieben tausend Fragen, Ahnungen, Hoffnungen, Sehnsüchte und ein Gefühl der Unvollkommenheit.
Meine Tochter ging schon in die Schule, als unsere Mutter einmal ins Krankenhaus musste, um sich einer Operation zu unterziehen. Da bat mich meine Schwester zu einem Gespräch.
Sie hatte auf Mutters Dachboden, bei der Suche nach ihren alten Schlittschuhen, einen Schuhkarton mit Briefen und einem Tagebuch gefunden. Briefe, auch von den Großeltern väterlicherseits, über die bei uns nie gesprochen wurde. Durch diese Briefe erfuhren wir Aufschlussreiches aus der Vergangenheit.
Unser Vater hatte, wie seine Eltern, eine kommunistische Weltanschauung vertreten. Lange vor dem Krieg, schon als Schüler, hielt er leidenschaftliche politische Vorträge in seiner Heimatstadt. Die Gesinnung der Familie war bekannt.
Unsere Großeltern hatten einmal für ein paar Tage Rosa Luxemburg versteckt. Der Opa kam dafür ins KZ. Die Oma hörte bis zu ihrem Tode die Stiefel der SS auf dem Pflaster vor ihrem Haus. Sie durchlebte es immer wieder, wie sie ihren Mann abholten, bis sie eine alte, geistig verwirrte Frau war.
Papas Vorfahren waren vor vielen Generationen mittellos aus Thüringen gekommen. Den Ort, der meinen Mädchennamen trägt, gibt es noch heute. Papas Vater hatte aufgrund seiner politischen Einstellung den Adelstitel vor seinem Namen abgegeben.
Unsere Mutter, aus wohlhabendem Bürgertum, hatte eine völlig andere Erziehung erhalten, als unser Vater. Sie war politisch und auch gesellschaftlich nicht gerade die erwünschte Partie für die kommunistischen Schwiegereltern.
Vater und Mutter kannten sich erst kurze Zeit, als Mutter von ihm schwanger wurde. Anstand, Verantwortungsgefühl, vielleicht auch Sensibilität und Schwäche unseres Vaters führten zur Eheschließung, zu einer Ferntrauung. Zum Wachsen einer Liebe und eines Zusammengehörigkeitsgefühls blieb keine Zeit. Zusammengerechnet hatten sie bis zu Vaters Tod knapp 5 Monate ihres Lebens gemeinsam verbracht.
Vater musste ein besonders schöngeistig veranlagter Mensch gewesen sein, dabei schwermütig und introvertiert. Er hatte nach der Schulzeit ein Ballett- und Schauspielstudium aufgenommen. Der Krieg hatte ihn rasch zerbrochen.
Fast jeder Fronturlaub bedeutete für unsere Mutter eine erneute Schwangerschaft.
Mutter hatte eine verwöhnte, wohlbehütete Kindheit verbracht. Sie blieb klein und zierlich, wurde aber zäh und lebenstüchtig, lieb und tolerant. Sie entwickelte Kräfte und Fähigkeiten, die unser Überleben sicherten. Sie arbeitete in der Landwirtschaft, stand in der Fabrik am Fließband, erledigte die Buchführung einer Holzhandlung, und abends erteilte sie Klavierunterricht.
Der Schuhkarton vom Dachboden enthielt auch Briefe einer unbekannten Frau aus Berlin. Einer davon war besonders aufwühlend.
1945, in den letzten Kriegstagen, erfuhr ein Vorgesetzter durch einen Denunzianten von Vaters politischer Einstellung. Aus Angst vor seiner Hinrichtung floh unser Vater daraufhin von der Truppe. Er wurde gefasst und mit einem Gewehrkolben zusammengeprügelt. Seine Kameraden ließen ihn liegen. Die Briefschreiberin aus Berlin hatte das beobachtet, ihn ins Haus geschleppt, versteckt, gepflegt und sich in ihn verliebt. Dann wurde sie schwanger. Das hatte unser Vater nie erfahren.
Nachdem er sich ein wenig besser fühlte, wollte er nach seiner Familie suchen. Die Berlinerin musste ihn gehen lassen, wollte in einem späteren Brief nur wissen, wie es ihm ginge. Denn gesund war er nicht, als er sie verließ. Er hatte doch immer so entsetzliche Kopfschmerzen gehabt! Unsere Mutter möge verzeihen, dass es unter den vorausgegangenen Umständen zu dieser Nähe gekommen war. Sie habe ein Kind von ihm und liebe unseren Vater, wäre gerne seine Frau geworden. Er hätte sich ja aber anders entschieden.
Vater und diese Fremde hatten uns mithilfe des Roten Kreuzes gefunden.
Aus anderen Briefen und Tagebucheintragungen unserer Mutter erfuhren