Delikatessen für die Sinne (Band 1). Jutta Dethlefsen
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Peinlich ist mir das Ganze schon, aber ich greife tapfer zum Telefon. Am anderen Ende sieht man mich ja nicht. Wo steht die Telefonnummer? Ah hier, unter der letzten Anzeige.
Und die klingt gut, besonders gut. Warum habe ich die vorhin überlesen?
Da steht doch tatsächlich alles, was ich vermisse und ohne konkreten Alterswunsch.
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Er, in der Mitte der zweiten Lebenshälfte, 1,82 Meter, schlank, aber nicht dünn, noch berufstätig, zärtlich und leidenschaftlich. Musik- und Theaterliebhaber, ein wenig sportlich, sehnt sich nach einer ebensolchen Frau, schlank bis mollig, Alter unwichtig.
Alter unwichtig? Wie meint er das? Kann ich mich da auch noch bewerben? Ist er nicht diesem Jugendwahn verfallen, der das Alter zu einem Makel degradiert? Ich tue es, ich tue es nicht, ich tue es. Meine Blusenknöpfe sagen: »Ich tue es.«
Erst einmal meine Annonce aufgeben und dann seine beantworten. Eine von beiden Aktionen wird schon erfolgreich sein. Ich werde meine E-Mail-Adresse angeben und vorsichtshalber ein Extrakonto einrichten.
Es ist so weit. Endlich!
Morgen werde ich ihn treffen, meinen verheißungsvollen Märchenprinzen. Er hat sich schon ein paar Tage später auf meine Antwort gemeldet. Bin ich aufgeregt! Ich kenne ihn doch noch gar nicht, bin ich etwa schon verliebt?
Was ziehe ich an? Und zum Friseur muss ich auch noch. Pediküre, Maniküre und einen farbenfrohen Lippenstift.
Ich werde einen kurzen Rock anziehen, den mögen alle Männer leiden. Oder ist das zu gewagt? »Ach, Blödsinn«, beruhige ich mich.
Wann habe ich mir zuletzt so viele Gedanken um mein Äußeres gemacht?
Ich weiß nicht, wie ich die Nacht herum bekommen habe. Schlaf wollte sich nicht einstellen. Nun habe ich verquollene, rote Augen und eine fahle Haut, auf der sich die Falten wie Regenrinnen ausmachen.
Na ja, ich kann noch etwas aus mir machen, habe noch ein paar Stunden Zeit.
Nur kein schlechtes Gewissen aufkommen lassen. Es ist Frühling und man lebt nur einmal. Zudem ist es in meinem Alter fünf vor zwölf und die Zeiger rücken unerbittlich viel zu schnell weiter.
Wenn ich jetzt noch hektische rote Flecken bekomme! Uff, bitte nicht.
Ich möchte doch nur noch ein einziges Mal dem Alltagstrott entkommen. Nur noch einmal Begehren, das mir gilt, in den Augen eines Mannes sehen, Leidenschaft spüren und schenken. Versprochen, nur noch ein einziges Mal.
Wie gut, dass Carsten auch heute Abend, wie so häufig, später kommt. »Die Besprechung kann dauern«, meinte er. Das passt super.
Nach anstrengendem, zeitraubendem Versuch der Verschönerung schaue ich in den Spiegel. Ganz passabel, ich nicke mir Mut machend zu. Jedenfalls ist es nicht mein Alltags- und Putzgesicht, das mir entgegen schaut. Nur das einfallende Sonnenlicht ist erbarmungslos. Hoffentlich ist in der vorgeschlagenen Gaststätte rücksichtsvollere Beleuchtung.
Ich bin so aufgeregt! Ein Rendezvous in meinem Alter! Die Haustür verschließe ich sorgsam und gehe mit zitternden Knien den Gartenweg hinunter.
Ein vertrauter, betörender Geruch erfüllt die Luft.
»Autsch!« Da bin ich zu nahe an den Rosenstrauch gekommen. Dunkelrotes Blut tropft von meinem Handrücken auf die unzähligen weißen Blütenblätter, die wie ein Teppich den Erdboden bedecken. Mein Blut verfärbt das Weiß in ein helles Rosa. Ich starre fasziniert auf die attraktive Färbung. Ein Ast des Strauchs hat sich unter seiner Blütenlast über den Gehweg gebeugt und den Durchgang behindert. Der Busch trägt so viele Blüten, dass kaum noch ein grünes Blatt zu sehen ist. Ich schaue beschämt zu ihm empor und schließe für einen Moment die Augen. Die Erinnerung holt mich ein.
Carsten hatte die Rose gepflanzt. Es war kurz nach unserem Einzug in das Haus. Eines Tages hatte er sie mitgebracht und mir erzählt, er hätte sie von dem unbenutzten Grundstück am Ende der Straße stibitzt. Er hatte mich dabei verschwörerisch angeschaut und einen Finger auf seine Lippen gepresst. »Das bringt Glück. Ich liebe dich und werde immer zu dir stehen«, hatte er mir ins Ohr geflüstert und mich dann ganz fest in die Arme geschlossen.
Er hatte Wort gehalten. Später war er den Kindern ein liebevoller Vater. Er hatte meine Launen ertragen und mir im Haus und im Garten geholfen, solange auch ich berufstätig war.
Das ist Jahre her und jetzt, ausgerechnet jetzt, spüre ich wieder diese Wärme und Geborgenheit, die er uns immer gegeben hat.
Langsam gehe ich ins Haus zurück.
An der Garderobe hängt ein Einsteckschal von Carsten – mit Punkten. Ich streiche zärtlich darüber und lasse ihn lächelnd durch meine Finger gleiten. Dann vergrabe ich mein Gesicht in ihm und atme den vertrauten Geruch tief ein.
NUR EIN FOTO
Wenn ich die Augen schließe um mich Erinnerungen hinzugeben, bin ich in meiner Kindheit im Alter von sechs oder sieben Jahren.
Unser Vater war für mich nicht mehr als ein vergilbtes Foto in der Schublade einer Flurkommode, eine Porträtaufnahme, zwanzig mal zwölf Zentimeter. Wir Kinder und Mutter gingen recht unachtsam um mit dem Bild, als schiene es nicht von Bedeutung, obgleich es nur dieses eine von ihm gab.
Die Fotografie zeigte, trotz Schrammen und Flecken, einen jungen Mann in Uniform mit einem fast mädchenhaften Gesicht. Die gerade Stirn und die hohen Wangenknochen verliehen ihm etwas Würdevolles. Große Augen, ernst und melancholisch blickend, ein fein geschnittener Mund und eine wohlgeformte, wenn auch etwas zu groß geratene Nase, rundeten das Bild ab. Es war eine Aufnahme von 1943, wie Mutters Handschrift auf der Rückseite verriet.
Wenn ich allein war, nahm ich bisweilen das Foto an mich, hielt es neben mein Gesicht und schaute in den Spiegel. Nein, seine Ebenmäßigkeit besaß ich nicht, auch nicht seine Augen, und dennoch war da eine Ähnlichkeit, jedenfalls wesentlich deutlicher als zu meinen Geschwistern. Ein beängstigendes und gleichzeitig angenehmes Gefühl.
Als Kind empfand ich das als verwirrend. Wusste ich doch, dass ich erst Monate nach seinem Tod geboren wurde.
Von Mutter erfuhren wir Kinder kaum etwas über unseren Vater. Fragen wich sie aus, ihr Gesichtsausdruck bekam etwas Schmerzhaftes. So unterließen wir es. Auf meine Anmerkung, wie schön Papa doch auf dem Foto aussähe, reagierte sie nicht, nahm mich in den Arm und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
So vermischten sich bei mir Wunschdenken und Realität und führten zu einer abstrakten, fast mystischen Vorstellung.
Unser Vater erfuhr für viele Jahre Anonymität.
Es war unsere Großmutter mütterlicherseits, die mir als Heranwachsende behutsam aus der Familiengeschichte erzählte und verschüttete Erinnerungen in mir weckte.
Vater im Krieg. Seit Monaten kein Lebenszeichen von ihm. Unsere schwangere Mutter, mein acht Monate alter Bruder Christian, der im Kinderwagen lag, mein zweijähriger Bruder