Delikatessen für die Sinne (Band 2). Jutta Dethlefsen

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Delikatessen für die Sinne (Band 2) - Jutta Dethlefsen

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ausgebreitetes Laken. Am Horizont vereinten sich Himmel und Wasser, küssten sich und flüsterten miteinander. Worüber? Über die Wahrheit? Kannten sie die?

      Ihr Blick erfasste das kleine Bootshaus vor dem Steg.

      Hätte sie doch nicht allein zurückkommen sollen? Das Verdrängen hatte jahrelang gut funktioniert und nun? Warum tat sie sich das an?

      Ihr Mann Enno hatte gleich gesagt: »Übergib das Anwesen mitsamt dem Krempel einem Makler und wühle nicht in der Vergangenheit.«

      Aber irgendetwas in ihr verlangte die Rückkehr. Sie hatte beschlossen, sich der Vergangenheit zu stellen.

      Mira verließ den Raum, der ihr Kinderzimmer gewesen war. Sie stieg die knarrenden Treppenstufen hinab. Eine Hand umfasste krampfhaft das Geländer.

      Wann war sie das letzte Mal in diesem Haus gewesen? Als sie vor acht Jahren den Vater zu sich nach Berlin holte, um ihn in eine Pflegeeinrichtung zu geben? Damals hatte sie sich hier nicht lange umgesehen. War zu erschüttert über die Senilität ihres Vaters, hatte ein paar Kleidungsstücke zusammengepackt und fluchtartig mit ihm das Haus verlassen. Bis Berlin hatte er zusammengesunken auf dem Beifahrersitz gesessen und auf ihre Fragen keine Antworten gegeben. Die Hände ergeben im Schoß gefaltet schauten seine Augen etwas, das sich ihren Blicken entzog.

      Vater wurde 91 Jahre. Eine Antwort war er ihr bis zu seinem Tod schuldig geblieben. Auch später in der Einrichtung fixierte er schweigend irgendeinen nicht vorhandenen Fleck auf der Tapete, sobald sie Fragen stellte. Er begab sich mental an einen fremden Ort, ohne ihr Zutritt zu gewähren. Dabei hätte allein er den Knoten des Taus lösen können, das ihr die Brust verschnürte und nachts für Albträume sorgte.

      Wie gut, dass sie Enno hatte! Er akzeptierte sie mit ihren Ängsten. Das war bestimmt nicht immer leicht für ihn. Sie hatte jede Therapie verweigert und irgendwann hob er nur noch resigniert die Schultern.

      Sie erinnerte sich gut daran, wie schweigsam der Vater wurde und wie sich seine Mine verfinsterte, sobald sie als Kind und Heranwachsende nach der Mutter fragte.

      Einmal gab es diesen Streit mit ihrem Vater. Wieder war sie mit Fragen zu ihm gekommen. Er hatte sie angebrüllt: »Mira, Mira, verdammt, lass endlich die Vergangenheit ruhen. Zum letzten Mal, ich verbiete es dir, mich jemals wieder zu fragen!« Er hatte den Arm gehoben, als wenn er sie schlagen wollte, ließ ihn aber erschöpft sinken und hielt sich die Hände vor das Gesicht. Seine Schultern bebten in lautlosem Schluchzen.

      Sie war sehr erschrocken, hatte lange Zeit nicht mehr zu fragen gewagt. So kannte sie ihren Vater nicht. Nie hatte er im Zorn die Hand gegen sie erhoben. Er war ein stiller, nicht besonders zärtlicher Vater, aber hilfsbereit und gerecht. Die Tür zu seinem Herzen hatte sie jedoch nie wirklich öffnen können.

      An diesem Tag war für sie etwas unwiederbringlich verloren gegangen.

      Sie verließ das Haus, ging in das entfernte Berlin und nahm eine Arbeit auf.

      Der Kontakt zum Vater beschränkte sich nach ihrem Auszug auf zwei Besuche von ihm in Berlin, einem Weihnachtsbrief im Jahr und ihren gelegentlichen Anrufen.

      Die Inhalte der Kommunikation waren verkrampft und leer.

      In den Räumen, in die sie nun zurückgekehrt war, verspürte sie keine Vertrautheit, nur Angst. Das Haus barg für sie ein dunkles Geheimnis, das mit ihrer Mutter zusammenhängen musste.

      Für einen Moment schob sie erfolgreich die Erinnerungen beiseite, stieß die Haustür auf und stapfte durch das kniehohe Gras zum Bootshaus hinunter. Dornengestrüpp zerriss ihr das Kleid, hinterließ blutende Striemen auf ihren nackten Beinen. Sie spürte sie nicht. Das Bootshaus war verschlossen. Wo war der Schlüssel hingekommen? Sie rieb mit dem Handrücken über die verdreckte Fensterscheibe, um besser hineinsehen zu können.

      Drinnen behinderten Spinnweben die Sicht, aber einige Einrichtungsgegenstände aus ihrer Kindheit waren zu erkennen.

      Sie setzte sich auf eine Stufe zum Bootshaus und schloss die Augen. Wieder kamen die Erinnerungen. Sie sah ihre Mutter mit ihren braunen, gutmütigen Augen und dem vertrauten Lächeln im Gesicht aus dem Gemüsegarten kommen. Sie, Mira saß auf der Schaukel. Mutter war groß und kräftig. Nun stellte sie die Schüssel mit dem Gemüse ins Gras und gab der Schaukel einen kräftigen Stoß. Mira jauchzte und kreischte. Mutter hob die Schüssel wieder auf und Mira schaute ihr nach, wie sie mit wehenden Röcken in der Küche verschwand.

      Abends, wenn der Vater nach Hause kam, lag Mira schon im Bett. Dann stiegen traurige, melancholische Klavierklänge wie Perlen bis zu ihr hinauf in das Zimmer. Mutter spielte für den Vater. Er liebte ihr Klavierspiel, aber er lobte sie nie. Jedenfalls hatte Mira das niemals vernommen. Manchmal waren auch andere Töne zu hören. Dann stritten sie miteinander. Meistens endete es mit Mutters Schluchzen.

      Mira hatte gelauscht, aber den Inhalt des Streits nie verstanden. Sie zog sich die Bettdecke über den Kopf. Für Stunden konnte sie danach nicht einschlafen.

      Eines Tages, Mira war etwa vier Jahre alt, erzählte der Vater ihr am Frühstückstisch, dass Mutter in der Nacht gestorben wäre und man sie schon abgeholt hätte. Sie sollte auf dem Friedhof in der entfernten Stadt beerdigt werden. Er erklärte ihr rücksichtslos mit wenigen Worten den Vorgang einer Beerdigung und drückte sie kurz an sich. Seine Augen wirkten leblos, wie die eines Blinden.

      Für Mira war es unfassbar zu hören, dass man ihre geliebte Mutter in der Erde verbuddeln würde. Sie war hilflos weinend auf seinen Schoß geklettert, verkrampfte die kleinen Hände in seiner Weste und flehte: »Papa, Papa, sie dürfen keinen Sand auf Mama schütten, das mag sie nicht. Du weißt doch, im Sommer unten am See schimpfte sie ständig über den Sand, der ihr bis in den Badeanzug kroch.« Die Tränen erstickten die weiteren Worte. Endlich stammelte sie: »Wir beide haben sie ausgelacht und sind mit Sand in den Händen hinter ihr hergelaufen.« Erneut überkam sie ein Weinkrampf, dann flüsterte sie nur noch einmal: »Papa, du darfst nicht zulassen, dass sie Sand auf sie schütten! Sie mag es nicht.«

      Es hatte keine Beerdigungsfeier und keinen Friedhofsbesuch gegeben. Später hatte der Vater kurz erwähnt, es hätte auf Mutters Wunsch denn doch eine Seebestattung gegeben. Das war gelogen, das spürte sie.

      Ihre Eltern hatten im Ort keine Freundschaften geschlossen. Über Verwandte wurde nie gesprochen. Gab es keine?

      Der Vater hatte keine Frau wieder in sein Leben gelassen.

      Sie öffnete die Augen, ihr Rücken schmerzte. Wonach suchte sie? Wonach?

      Mira ging ein paar Schritte auf den Bootssteg hinaus. Sanft rollten die Wellen an das Ufer, streichelten den warmen Sand, zogen sich zurück, nur um einen erneuten spielerischen Anlauf zu nehmen. Mira wandte ihren Blick in alle Richtungen. Wo der Garten begann, sah sie ein schlichtes kniehohes Holzkreuz stehen. »Komisch«, sinnierte sie, »das habe ich hier nie gesehen.« Das Kreuz war aus dickem, grob behauenem Holz gefertigt und sah aus, als würde es viele Jahre Wind und Wetter trotzen können. Der Namenszug allerdings war unleserlich geworden. Ein »H« war schwach zu erkennen. Mira konnte den Buchstaben nicht zuordnen.

      Bis auf das Schlagen der Wellen, das Zirpen der Grillen und das Schnattern der Enten, die in Formation vorüberzogen, gab es keine Geräusche. Mira ging zurück zum Wohnhaus.

      Erschrocken blieb sie stehen. An der Rückseite des Hauses, bei der Kellertreppe, lehnte ein Mann mit stark verkrümmtem Rücken an der Mauer. Er trug eine schmutzige, braune Hose, die in Brusthöhe von Hosenträgern gehalten wurde und stachelige Waden preisgab. Die Füße steckten in Holzschuhen unbestimmbarer Farbe.

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