Delikatessen für die Sinne (Band 2). Jutta Dethlefsen
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Für immer Deine Grete.«
Mira ließ den Brief auf ihren Schoß sinken. So aufgewühlt war sie noch nie gewesen.
Ob Vater auf den Brief geantwortet hatte? Sie schüttelte den Kopf, glaubte es nicht.
Die Gedanken wirbelten durcheinander. Hatte sie nicht immer gespürt, dass es etwas zu klären gab? Nun hielt sie den Beweis in den Händen. Und doch blieben viele Fragen für immer unbeantwortet.
Vielleicht war ihre richtige Mutter wirklich eine Egoistin gewesen, aber Vater hatte sie über alles geliebt. Der Gedanke zumindest fühlte sich gut an.
Mira entnahm dem Karton ein weiteres unbeschriebenes Kuvert. Darin befand sich ein Foto, das Porträt einer schönen, jungen Frau. Die Haut wirkte transparent wie edles chinesisches Porzellan. Die kühn geschwungenen Brauen wölbten sich über großen, verträumt blickenden Augen. Unter den vollen Lippen beendete ein kleines, energisches Kinn das ovale Gesicht. Helle Locken vervollständigten den engelhaft unschuldigen Anblick.
Den Hals schmückte eine dünne Kette mit einem Amulett.
Auf der Rückseite des Fotos stand nur »Helene« - ohne Jahreszahl.
Das also war ihre Mutter.
Der Karton barg noch einen Seidenschal. Sie schmiegte ihr Gesicht hinein und nahm einen schwachen, fremden Geruch wahr. Den Geruch ihrer Mutter? Seltsam, nach so vielen Jahren!
In einem Samtkästchen lag eine hellblonde Locke. Mutters Haare, denn Vaters und Miras waren brünett. Sie wickelte die Locke um ihren Zeigefinger, bevor sie das Haar behutsam zurück in das Kästchen legte.
Der Karton beinhaltete noch feine, weiche, hellbraune Lederhandschuhe und ein paar Babysachen, ganz sicher von ihr, Mira.
In Seidenpapier gewickelt fand Mira das Amulett, das ihre leibliche Mutter auf dem Foto trug. Der Verschluss klemmte, bevor er nachgab. Auf der einen Seite ein Babyfoto von Mira, auf der anderen eins von einem lachenden jungen Mann, ihrem Vater.
Auf dem Boden des Kartons lag ein Foto von der Frau, die Mira für ihre Mutter gehalten hatte. Sie trug ein Baby auf dem Arm. Daneben strahlend der Vater. So hatte sie ihn nie erlebt, so glücklich. Und doch nur eine Lüge? Welches Foto war die Lüge?
ANNÄHERUNGEN
Eine Verabredung mit Florian. Wahnsinn! Er hatte mich in das nobelste italienische Restaurant der Stadt eingeladen.
Noch war er für mich Herr Mertens. Aber in meinen Gedanken nannte ich ihn schon Florian oder Flori. Das durfte natürlich niemand wissen.
Florian Mertens war der Prokurist der Firma, in der ich ein Praktikum absolvierte.
Natürlich hatte ich schon herausbekommen, dass er geschieden und doppelt so alt war wie ich. Das störte mich nicht, er sah umwerfend aus. Brad Pitt war eine graue Maus gegen ihn.
Auf dem Betriebsfest hatte er sich mit mir unterhalten, das heißt, ich hatte versucht, geistreich auf seine Fragen zu antworten. Egal, er hatte mich für den kommenden Freitag eingeladen und wollte mich um 19.30 Uhr von zu Hause abholen.
Mir schwebte vor, das hautenge Minikleid mit den Spaghettiträgern anzuziehen. Ich hatte es im vorigen Jahr für Claudias Hochzeit gekauft. Warm genug war es jetzt im Juli, ich würde ohne Jacke auskommen, besaß auch keine passende. Mein letztes Geld war gestern draufgegangen für ein paar sündhaft teure, schwindelerregend hohe Stilettos, sogenannte High Heels. Darauf gehen konnte ich noch nicht. Ich übte es gerade, als mein sechzehnjähriger Bruder Ben den Kopf durch die Zimmertür steckte.
»Wow, ich wollte dir Pfefferspray für dein Rendezvous empfehlen. Man weiß ja nie. Aber gegen die Waffen«, er zeigte auf meine Schuhe, »ist Pfefferspray nur ein Papierkügelchen, wenn es um Selbstverteidigung geht.« Er grinste frech, dann zog er den Kopf zurück. Glaubte er wirklich, ich würde mit diesen Kostbarkeiten nach ihm werfen, wie ich es manchmal mit den Hausschlappen tat?
Meine Gehübungen auf den stelzenartigen Gebilden erinnerten an einen Zirkusclown. Im Fernsehen auf dem Catwalk sah es irgendwie anders aus. »Hoffentlich schlägt er nach dem Essen keinen Verdauungsspaziergang vor«, sinnierte ich, bevor ich in das Kleid schlüpfte, das heißt, zu schlüpfen versuchte.
Oh jeh! Wie war das eingelaufen in der Reinigung! Dass es aus synthetischem Gewebe war und somit nicht einlaufen konnte, verbannte ich aus meinem Denkvermögen. Vielleicht hatten auch die Tierchen, die man Kalorien nennt, sich mit dem Kleid beschäftigt.
»Ben!«, rief ich, und noch einmal wie ein Mensch in Todesnot: »Ben!«
Die Ohren mit dem MP3-Player verstöpselt, trabte er endlich gelangweilt ins Zimmer. Er schaute mich fragend und amüsiert an, wie ich da halbwegs in dem Kleid feststeckte.
»Ben, du musst mir helfen, ich bekomme den Reißverschluss im Rücken nicht zu.«
Für sein Grinsen hätte ich ihn erschlagen mögen. Ich verkniff mir jede Bemerkung, da nur er momentan im Hause und ich auf ihn angewiesen war.
»Das schaffe ich auch nicht«, hörte ich ihn murmeln und wesentlich deutlicher: »Alle zehn Zentimeter kosten dich fünf Euro.« Als er den Reißverschluss endlich geschlossen hatte, war ich um zwanzig Euro ärmer.
»Denkst du, ich bin die Europäische Zentralbank?«, zischte ich wütend.
Ben zuckte kurz mit den Schultern und summte zu der Musik aus seinen Kopfhörern, als er den Raum verließ. Ich hatte mich schon häufig gefragt, ob er überhaupt noch hören konnte ohne die Dinger.
Nase pudern, Lippenstift. Schon wieder Schweißperlen auf der Oberlippe, dick wie Regentropfen.
Das pünktliche Klingeln des Herrn Mertens hatte mein Bruder erstaunlicherweise wahrgenommen. Er lief vor mir zur Haustür und öffnete neugierig. Bestimmt hatte er gelauert, um nichts zu verpassen.
Mein viel zu enges Kleid und die unglaublich hohen Schuhe erlaubten mir nur einen würdevollen, gemächlichen Gang über den Flur. Jedenfalls hoffte ich, dass Herr Mertens dort im Türrahmen meine schwankenden Minischritte so deutete.
Diese trippelnde Art zu gehen musste ihn an eine japanische Geisha erinnern.
Gott sei gedankt, sein Auto stand gleich vor der Tür! Die zwanzig Meter dorthin auf diesen Ungeheuern, die sich tatsächlich Schuhe nannten, kamen mir vor wie der Pilgerpfad nach Santiago de Compostela. Natürlich hätten die Folterinstrumente an meinen Füßen wenigstens eine Nummer größer sein sollen. Doch welcher Mann findet solche Schuhe in 40 oder 41 noch sexy? Zehen zusammenrollen und durch.
Sein Auto, ein, niedriger Sportwagen, stand platt auf der Straße wie eine Flunder vor der Zubereitung auf der Küchenanrichte.
Herr Mertens hielt mir galant die Beifahrertür auf. Ich starrte entsetzt auf das flache Etwas, das ein Auto war.
Wie um alles in der Welt sollte ich in meinem Outfit charmant diese Niederungen erreichen? Zu Hause hatte ich Auto ein- und aussteigen geübt, abgeschaut im Fernsehen bei der Queen von England. Zuerst den Po auf den Sitz, die Beine nachziehen. Das ging in dem Kleid nicht. Die Queen stieg bestimmt niemals in ein oder aus einem Auto, dessen