Delikatessen für die Sinne (Band 2). Jutta Dethlefsen
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Ein paar Tage später hatte meine Schwägerin Geburtstag. Ihr Sohn lag im Koma auf der Intensivstation der Universitätsklinik.
Meine Schwiegermutter war nicht ansprechbar. Eine gebrochene Frau, einsam in ihrer Trauer um das für sie Liebste und Einzigartige. Grau und alt sah sie aus, verweigerte die Nahrung und starrte stundenlang auf das Telefon.
Ich schämte mich entsetzlich, erzählte niemandem von dem letzten Gespräch mit Kai.
Fünf Tage später, Lauras erster Geburtstag.
Um drei Uhr morgens schrillte im Haus ein Telefon. Ich wusste es sofort. Meine Gebete waren nicht erhört worden. Lähmung erfasste mich, aber ich musste aufstehen. Mein Mann erhob sich ebenfalls schlaftrunken. Wir warfen uns die Bademäntel über und eilten in den Wohntrakt von Fred und Simone.
Sofort erschienen dort auch die Schwiegereltern. Schwiegermutter war nur noch ein Schatten ihrer einstigen Erscheinung. Jegliche Überheblichkeit war von ihr abgefallen.
Niemand sagte etwas. Der Telefonhörer baumelte von Freds rechtem Handgelenk, nur ein unpersönliches Tuten war noch zu hören. Simone klammerte sich zitternd an ihren Mann.
»Tot«, flüsterte sie. »Er ist tot.«
Die Glühbirne einer Stehlampe begann zu flackern, als wollte sie erlöschen. Das gespenstische Licht gab der Szene etwas Unwirkliches.
DU BIST NICHT ALLEIN
»Ein Kind? Alles ist okay, wir schaffen das. Du bist nicht allein.«
Wir schaffen das, w i r. Mit zwei Fingern hatte er ihr Kinn angehoben, sie angelächelt und mit einem Blick aus seinen dunkelblauen Augen ihre Seele gestreichelt.
Mit einer Handbewegung konnte er ihre trüben Gedanken verjagen, ihren Mut stärken und sie glauben lassen, sie wäre das Wichtigste für ihn.
Das Wort Vertrauen hatte er häufig benutzt und das Wort Zukunft betraf immer sie beide.
»Liebe, Liebes, Liebling.« Sie hatte sich seine Worte auf der Zunge zergehen lassen wie eine Praline. Seine Äußerungen hatten sie über den Tag begleitet und sie abends glücklich einschlafen lassen.
In einem langen, weißen Kleid wollte sie irgendwann mit ihm tanzen, in seinen Armen in den Himmel schweben.
Träume. So etwas gab es nicht in der Realität, jedenfalls nicht für sie.
Obgleich ihre Eltern vor Jahren gestorben waren, schämte sie sich vor ihnen. Sie fühlte den Blick ihrer Mutter aus traurigen Augen auf sich ruhen und meinte, ihre Stimme zu hören: »Kind, was hast du nur aus deinem Leben gemacht. So etwas muss doch heute nicht mehr passieren.«
Und Vater? Vater hätte geschwiegen, sich abgewandt, als wollte er sie für immer vergessen.
War sie dumm und leichtgläubig, weil sie erst achtzehn Jahre war und keine Erfahrungen hatte? Warum konnte sie sich niemandem anvertrauen? Gab es überhaupt einen Menschen, den ihr Kummer interessierte? Woher kam diese Blockade, die Lähmung ihrer Stimmbänder, wenn es um ihre Probleme ging?
Nein, sie wollte sich niemandem mitteilen, kein Mitleid erfahren. Sie fürchtete die Blutleere im Herzen vieler Menschen.
Sollte sie in den eiskalten Fluss springen? Sie wollte doch gar nicht sterben. Und das Kind?
Es musste weg. So viel stand im Moment fest. Sie hatte Angst vor dem Eingriff.
Vielleicht hatte es schon Augen und würde sie flehend anschauen, wenn es ihren Körper verließ. »Absurd«, schalt sie sich und spürte Tränen auf ihrem Gesicht.
Sie war auf dem Weg zum Supermarkt. Ihren leeren Einkaufsbeutel legte sie auf eine schneefreie Bank und setzte sich darauf.
Gesunde Lebensmittel wollte sie kaufen, Obst, Gemüse und Fisch. Gut sollte es ihm gehen. Das Kind sollte sich prächtig entwickeln. Es würde auch ohne Vater eine gute Chance bekommen.
Und dann wieder überfielen sie erdrückende Zukunftsängste, überspülten sie wie Wellen, warfen sie an den Strand wie Strandgut, wertloses Strandgut. Nutzlos, hilflos, ausgeliefert!
War sie nun eigentlich für oder gegen das Kind?
»Wir leben nicht im 17. Jahrhundert«, schalt sie sich. »Irgendwie wird es schon weitergehen, aber wie?« Mit ihm wäre das kein Problem gewesen. Aber allein? Nein, das würde sie nicht schaffen. Andere hatten schwierigere Situationen gemeistert. Warum war sie so zwiegespalten? Warum schwankte sie zwischen Kampf und Resignation?
Freude und Sorge hatte sie empfunden, als ihr der Arzt gratulierte. Andere haben das auch geschafft, häufig in noch schwierigeren Situationen. Auch ungeplante Kinder wurden schon immer geboren.
Erst seine Zuversicht, dann sein Schweigen. Er meldete sich nicht mehr.
Andere waren bestimmt stabiler, hatten Eltern, Geschwister, Freunde. Sie konnten etwas abgeben von der Verantwortung, die sie jetzt zu erdrücken drohte. Wie sollte sie arbeiten und ein Kind groß ziehen? Im nächsten Monat endete ihre Lehrzeit. Der Vorgesetzte hatte von einem sehr guten Abschluss gesprochen und von Übernahme, aber mit einem Kind?
Nein, es musste weg, bevor jemand etwas bemerkte, weg, weg! Es verbaute ihr die Zukunft. Dazu hatte es kein Recht und somit keinen Platz in ihrem Leben. Das war unumstößliche, beschlossene Sache. Sie entspannte sich.
Eine Frau ging vorüber. Unter dem Wintermantel zeigte sich deutlich der gewölbte Leib einer Hochschwangeren. Die Fremde lächelte und wirkte so glücklich, so überlegen, stark und stolz. Lange schaute sie ihr hinterher, registrierte den typischen Gang werdender Mütter, etwas breitbeinig, jeden Schritt ausbalancierend, das werdende Leben schützend.
Das werdende Leben schützen? War das nicht auch ihre Aufgabe? Wie konnte sie nur diese anderen Gedanken zulassen! Unmöglich! Schließlich lebte sie in einem reichen Land, in dem niemand hungern musste. Aber reicht ein gefüllter Magen zum Leben?
Vielleicht kam er ja auch zurück. Vielleicht beruhte seine Abwesenheit auf einem Missverständnis, obgleich er sich wiederholt am Telefon verleugnen ließ.
Vielleicht fühlte er sich überrumpelt, musste nachdenken. Noch einmal jedenfalls würde sie ihn nicht anrufen.
.
Erst einmal musste sie diese Bank verlassen und mit ihr die trüben Gedanken. Kälte war ihr den Rücken emporgekrochen, Hände und Füße kribbelten.
Sie erschrak bei dem Gedanken, das Ungeborene könnte ihre Gefühle wahrnehmen. Welche Ängste müsste es ausstehen?
Am Montag wollte sie in Erfahrung bringen, wer ihr helfen konnte, dem neuen Erdenbürger eine Chance zu geben. Es gab auch noch die Möglichkeit der Freigabe zur Adoption. Der Gedanke gefiel ihr aber nicht für ihr Kind. Wenn nun die Adoptiveltern keine guten Eltern waren?
Sie empfand keinen Zorn mehr darüber, dass der Wunsch nach Leben sich über ihre Verhütungsmethode hinweggesetzt hatte. So ein starker Knirps, hatte sich einfach festgekrallt in ihr.
Sie