Delikatessen für die Sinne (Band 2). Jutta Dethlefsen

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Delikatessen für die Sinne (Band 2) - Jutta Dethlefsen

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Zeit.

      Da sah sie ihn. Er hatte sich im Gespräch einer jungen, attraktiven Frau zugewandt. Zwei etwa sechsjährige Jungen begleiteten die beiden, offensichtlich Zwillinge. Eine seiner Hände lag vertraut auf der Schulter der Frau.

      Die Jungen hatten die Augen ihres Vaters und auf der Nase Sommersprossen.

      Ihr wurde schwindelig und übel. Sie schämte sich für ihre Naivität.

      Wie war er verlogen! Wollte er sich so ganz einfach aus der Verantwortung stehlen? Sie ballte die Fäuste. In gleichem Maße empfand sie Wut und Trauer.

      Sie hatte ihm geglaubt, als er ihr sagte, dass er Single wäre und kinderlos. Wehmut und leichte Traurigkeit lagen dabei in seinem Blick.

      Sie lehnte sich gegen ein Regal. Nach drei erholsamen Atemzügen verließ sie fluchtartig den Laden. Den Einkaufswagen hatte sie stehen lassen.

      Erst als der Supermarkt außer Sichtweite war, verringerte sie das Tempo.

      Sollte er noch eine Chance bekommen, ihr das zu erklären? Nein!

      Endlich begriff sie, warum er ihr nur seine Handy- und die Büronummer gegeben hatte. Sie gewann Klarheit über ihre ständigen Ausflüge aufs Land, über die kurzen Abendstunden, die seltenen gemeinsamen Übernachtungen! Wie war sie blöd gewesen! Nein, sie hatte es nicht wissen wollen!

      Ein bitterer Geschmack füllte ihren Mund. Sie musste sich doch von dem Kind befreien, es töten lassen, wie ein lästiges Insekt. Heute noch, spätestens morgen.

      »Der Schuft, dieses miese Schwein«, murmelte sie, während sie in Richtung Bushaltestelle ging.

      Kurz davor geriet sie in eine Menschenansammlung.

      Sie sah einen geöffneten Notarztwagen. Auf einer Trage lag eine Frau, das Gesicht schmerzhaft verzogen.

      Plötzlich trafen sich ihre Blicke und sie erkannte die Frau, deren fortgeschrittene Schwangerschaft ihr aufgefallen war, die vorüberging, als sie auf der Bank saß.

      Sie stieß zwei neugierige Passanten zur Seite‚ erreichte die Trage und ergriff intuitiv eine Hand der Fremden, um sie mit der anderen tröstend zu streicheln.

      »Gehören Sie zu ihr?«, fragte ein Sanitäter. »Kommen Sie, steigen Sie ein, vielleicht müssen Sie Geburtshilfe leisten, falls wir es nicht mehr ins Krankenhaus schaffen.« Er lächelte.

      Die Fremde ließ ihre Hand nicht los. »Du bist nicht allein«, flüsterte sie der Unbekannten aufmunternd zu.

      Zwanzig Minuten später durfte sie das große Wunder der Geburt erleben. Der Kleine war krebsrot und knautschig und doch so unbeschreiblich schön. Die Lungen arbeiteten gut, er begrüßte die Welt mit kräftigem Gebrüll.

      Als das Kind in warme Tücher gehüllt bei der Mutter im Arm lag, meinte diese erschöpft lächelnd: »Ich danke Gott und ich danke dir. Ich habe sonst niemanden. Vielleicht kann ich dir einmal etwas zurückgeben für deinen heutigen Beistand.« Sie angelte eine Visitenkarte aus ihrer Handtasche, die neben dem Bett auf einem Stuhl lag, und gab sie ihr.

      Dann widmete sie sich wieder ihrem Kind.

      Andere Anwesende waren nicht mehr von Wichtigkeit. Mutter und Kind genügten sich. Sie verließ auf Zehenspitzen den Raum.

      Draußen lehnte sie sich gegen die Hauswand, presste die Hand gegen ihre Brust, um den Herzschlag zu beruhigen. Das überwältigende Ereignis hatte sie völlig erschöpft und doch gestärkt. Sie lachte und weinte gleichzeitig. Gott hatte ihr dieses Erlebnis beschert, um alle Zweifel auszuräumen.

      So ein Wunder würde alle Hindernisse klein und unbedeutend werden lassen.

      Wie hatte sie zweifeln können! Wie hatte sie glauben können, es nicht zu schaffen! »Ich bin doch nicht allein«, murmelte sie an ihr Kind gerichtet, als sie das Krankenhausgelände verließ.

      FÜGUNGEN

      In der Erinnerung liegt eine Lebendigkeit, deren Intensität die Wirklichkeit manchmal übertrifft.

      Ich schließe die Augen und lehne mich behaglich im Gartenstuhl zurück. Vierzig Jahre ist es her, und doch haben die Bilder eines bestimmten Tages ihre Konturen nicht eingebüßt. Nicht Intellekt, Begabung oder Ehrgeiz veränderten mein Leben positiv, sondern allein meine Schusseligkeit.

      Siebzehn Jahre war ich damals. Als Schülerin arbeitete ich in den Schulferien, um Mutter von der Taschengeldzahlung zu entlasten.

      Ich war die Jüngste von drei vaterlosen Geschwistern.

      Mutter bestritt durch Fabrikarbeit und Klavierunterricht unseren bescheidenen Lebensunterhalt.

      Es war selbstverständlich für uns, die Verantwortung für unser Auskommen mit zu tragen, sofern es unsere schulischen Leistungen und unsere Zeit am Nachmittag erlaubten.

      Für die Weihnachtsferien bekam ich einen Job im Archiv der Bundespost.

      Archiviert wurde damals anders, als heute. Noch hatte der PC keinen Einzug in die Bürowelt gefunden.

      Das bedeutete, eine Gruppe von etwa 10 Personen musste aus deckenhohen Regalen schwere Ordner ziehen, Belege sichten und abheften, und die Ordner zurückstellen. Es war eine staubige Angelegenheit, dazu in schwindelerregender Höhe.

      Hier im Kellerarchiv war es nicht nur extrem staubig, sondern auch sehr warm und stickig. Nebenan befand sich ein Heizungskeller. Dicke heiße Rohre durchquerten das Archiv.

      Die Tätigkeit war für uns ungewohnt und schweißtreibend. Aus diesen Gründen trugen wir über der Unterwäsche ausschließlich Kittel, hässliche, viel zu weite, graue Postkittel.

      Zu jeder Mitarbeiterin gehörte ein Metallschrank, in dem sie bei Arbeitsantritt ihre private Garderobe verstaute.

      Die körperliche Arbeit steigerte den Appetit.

      Wir gingen zum Essen in der knapp bemessenen Mittagspause gerne in einen Imbiss im Nachbarhaus.

      Das bedeutete: Kittel ausziehen, Kleid oder Hose und Pullover anziehen, Mantel drüber, Treppen hinauflaufen, rüber in den Imbiss, anstellen, essen und retour.

      Der Imbiss mit etwa fünfzig Bistrotischen und Bänken, mit einem langen Biertresen, einer großen Auswahl an Schnellgerichten und entsprechend langen Warteschlangen, wurde gut besucht.

      Die Mittagssirene heulte. Ich stand auf der obersten Leitersprosse. Meine Kolleginnen stürmten zu ihren Schränken. Ich rief ihnen die Bitte hinterher, im Imbiss einen Platz für mich zu besetzen und als Gericht den heutigen Mittagstisch zu wählen.

      Immer zwei Sprossen mit einem Mal nehmend, eilte ich die Stufen hinab, lief zu meinem Schrank. Im Laufen öffnete ich die Knöpfe, und zerrte an dem grauen Postkittel.

      Auf dem Gehweg schlug ich den Mantelkragen hoch, es war bitterkalt. Durch die fahrenden Autos spritze Schneematsch von der Straße.

      Als ich den Imbiss betrat, sah ich meine Kolleginnen bereits gemütlich in einer Bankreihe sitzen, mir einen Platz freihaltend.

      In dem überfüllten

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