Stimmen des Yukon. Birte-Nadine Neubauer
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Die Adler verschwanden genauso schnell, wie sie gekommen waren, und Julie bemerkte plötzlich, dass sie nicht mehr die einzige Person war, die das Ufer des Yukon besuchte. Sie wunderte sich nur, dass sie nicht schon eher bemerkt hatte, dass bereits zuvor andere Menschen an ihr vorbeigegangen sein mussten. Wie lange hatte sie wohl wirklich dem morgendlichen Treiben der Adler geistesabwesend beigewohnt? Julie hatte sämtliches Zeitempfinden während deren Vorstellung verloren und überlegte, dass es an der Zeit war, weiterzugehen.
Die zuvor am Himmel düster hängende Wolkenschicht hatte nun im Gesamten aufgehellt und an einigen Stellen konnte man immer besser einen Blick auf den wunderbar hellblau strahlenden Himmel dahinter erhaschen. Julie wollte zunächst die Gegenwart des Flusses noch weiterhin genießen und dann den restlichen Tag mit der Erkundung der Stadt verbringen. Während sie weiterging und die herrliche Umgebung in sich aufsog, hallte der Aufschrei des Adlers immer wieder, zum Verblüffen ihrer selbst, in ihren Gedanken nach. Etwas irritiert, aber dennoch entspannt, folgte Julie dem Weg, der unmittelbar am Ufer des Flusses entlang führte und auf dessen rechter Seite für eine kurze Strecke eine Eisenbahnschiene verlief. Um auf dem Weg weitergehen zu können, musste sie nach einer Weile die Hauptstraße überqueren. Auf der anderen Straßenseite sah sie einen riesigen reinweißen Dampfer mit kräftig orangefarbenem Schaufelrad auf dem trockenen Kiesbett liegen. Er trug die Aufschrift ›Klondike‹. Interessiert betrachtete sie ihn für kurze Zeit und genoss den grandiosen Anblick auf den sich windenden Yukon, der sich ihr von diesem Platz aus bot. In seiner Mitte waren ein paar Kiesbänke zu sehen, die stellenweise mit leuchtend hellgrünem Gras bewachsen waren und auf denen sich so manches Treibholz angesammelt hatte. Fasziniert riss Julie sich dennoch los und ließ die Stadt hinter sich liegen.
Vereinzelt zierten kleine Rosenbüschchen mit weißgelben Blüten den Wegesrand und vor einem Wald, dem sie sich allmählich näherte, stand das herrliche schmalblättrige Weidenröschen meterhoch in Hülle und Fülle. Seine gegenständig angeordneten Laubblätter waren dunkelgrün gefärbt und die schirmtraubigen Blütenstände, mit einer Vielzahl an kleinen vierzähligen Blüten, leuchteten rosa bis purpurrot in der Sonne. Die dahinter liegenden ockerbraunen Stämme der hohen Kiefern, mit ihren nadelwaldgrünen Baumkronen, boten ein kontrastreiches Bild, wobei die Weidenröschen besonders gut zur Geltung kamen. Die direkt am Fluss stehenden Exemplare spiegelten sich glänzend auf dessen Oberfläche.
Auf dem weiterführenden Weg stieß Julie auf ein Hinweisschild, welches ihr verriet, dass sie sich auf dem ›Millennium Trail‹ befand. Von dort aus, dem Weg folgend, tauchte sie ein in ein mit Fichten, Kiefern, Espen und Birken bewaldetes Gebiet. Feiner, ätherischer Geruch von den Blättern und der Rinde der Bäume stieg in ihre Nase. Der weiche hellbraune Waldboden wurde an manchen Stellen, durch die einfallenden Sonnenstrahlen, hell erleuchtet. Hier und da sah sie, wie kleine freche Streifenhörnchen ihren Weg kreuzten, um auf der gegenüberliegenden Seite ihr lustiges, pfeifendes Treiben fortzusetzen. Vergnügt durch die Gegebenheiten spazierte Julie in fröhlicher Gelassenheit durch den Wald, bis sie gewaltig rauschende Wassermassen, die in der Ferne zu hören waren, aufhorchen ließen. Es dauerte nicht allzu lange und sie erreichte eine himmelblau lackierte Eisenbrücke. ›Rotary Centennial Bridge‹ war mit gelber Schrift auf einem Holzschild über deren Eingang geschrieben. Sie betrat die knarzenden dunkelbraunen Holzdielen und überquerte den Yukon. Von der Brücke aus konnte sie nun auf ein Wehr blicken, dessen donnernder Wasserfall eine meterhohe Gischt verursachte. Das von dort aus im Anschluss fließende Wasser des Yukon schoss mit enormer Geschwindigkeit seinem Verlauf entlang und sprudelnde weiße Wellen ebbten erst kurz vor der Brücke wieder ab. Die aufgewühlten türkis- und smaragdgrünen Wassermassen brachten ein lautes Tosen mit sich, das sämtliche Geräusche der Umgebung überlagerte.
Als Julie auf der anderen Seite der Brücke ankam, schmückten wieder Weidenröschen, Rosenbüsche und eine Vielzahl an feinen Gräsern den Wegesrand. Immer wenn es der Sonne gelang zum Vorschein zu treten, kamen die leuchtenden Farben des Waldes in ihrer vollkommenen Schönheit zur Geltung. Allmählich verflüchtigten sich die Geräusche des aufgebrachten Wassers hinter Julie und ihr Gehör schien umso mehr aufzuatmen, je weiter sie nun in den vor ihr liegenden Wald hineinlief. Noch klarer als zuvor drangen nun die feinen vereinzelten Rufe der Grauwasseramseln aus den hohen Wipfeln der Bäume an ihr Ohr. Beflügelt von den Eindrücken der Umgebung bemerkte Julie, als sie sich plötzlich wieder an der Hauptstraße befand, wie eng verbunden doch Zivilisation und Wildnis hier im hohen Norden waren. Kurz hielt sie an, holte tief Luft und ließ die Eindrücke auf sich wirken.
Bei strahlendem Sonnenschein erreichte Julie schließlich am Nachmittag wieder die Innenstadt. Es war mittlerweile so warm geworden, dass sie sich unterwegs mancher ihrer längeren Kleidungsstücke entledigte, um die wohltuenden Sonnenstrahlen an ihre Haut gelangen zu lassen. Auf einem Spielplatz sprangen Kinder mit wildem Getöse und Gelächter durch ein Wasserspiel und auf einer angrenzenden Wiese lagen die Menschen auf ihren mitgebrachten Decken und genossen das herrliche Wetter. In den Straßencafés war beinahe kein freier Platz mehr zu finden und auf den Straßen stauten sich stellenweise die Autos. Julie stellte fest, dass, obwohl Whitehorse die Hauptstadt des Yukon war und hier der Hauptteil der Gesamtbevölkerung des Yukon lebte, die Stadt dennoch nicht überfüllt schien. In Deutschland käme dies eher einer Stadt auf dem Lande gleich und genau das war es, was Julie auf Anhieb an Whitehorse gefiel. Sie schlenderte durch die Straßen, sah sich in den Läden um und gönnte sich zwischendurch in der Sonne eine Tasse Tee, ehe sie am frühen Abend noch einmal das Ufer des Flusses aufsuchte. Erst der Hunger, der begann unnachgiebig zu werden, zwang Julie dem Wasser den Rücken zu kehren und in die Stadt zurückzugehen.
Nach einem reichhaltigen Essen im ›Ribbs & Salmon‹ gesättigt und durch die Zeitverschiebung etwas mitgenommen, steuerte Julie ihr Hotelzimmer an und warf sich erschöpft, aber glücklich aufs Bett. Sie dachte daran, wie wohl der morgige Tag werden würde und wie gespannt sie auf alles war. Nachdem, was sie an nur einem Tag erlebt hatte, war sie nun noch gespannter, auf das, was sie erst in den wilden Weiten des Yukon zu Gesicht bekommen und erleben würde. Bevor sie sich jedoch bewusst genauer mit ihren Gedanken auseinandersetzten konnte, hörte sie in der Ferne ihrer Gedanken erneut den Ruf des Adlers aufleben und im nächsten Moment war sie auch schon eingeschlafen.
»SKY HIGH« – DIE RANCH
»Hallo! Wartest du auf jemanden von der ›Sky High‹?«
Lächelnd kam Julie eine schlanke Frau mit lockigen blonden Haaren entgegen. Das schulterlange Haar verlieh ihr etwas Engelhaftes.
»Ja, das bin ich. Ich bin Julie«, antwortete sie ihr freudig.
Die beiden schüttelten sich herzlich die Hände.
»Ich bin Trudy und bringe dich zur Ranch. Wir haben ja bereits miteinander telefoniert. Es freut mich, dich endlich persönlich kennenzulernen!«
Trudy war bei den vorangegangenen Organisationen Julies Ansprechpartnerin gewesen. Sie ermöglichte, nach Rücksprache mit den anderen Teilhabern der Ranch, sozusagen ihren etwas aus der Reihe fallenden Aufenthalt.
Julie war sehr erleichtert, dass sie sich auf Anhieb zu verstehen schienen. »Freut mich auch, dich nun endlich persönlich kennenzulernen!«
Nach der Begrüßung glitt Trudys Blick