Die freundliche Revolution. Philippe Narval
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Über eine abgesagte kleine Rebellion in den Salzburger Bergen und was ich als Kind über die Menschen lernte.
Aufgewachsen bin ich auf einem Bauernhof in einem Dorf im Salzburger Land. Das Bauernhaus und der Stall standen auf einer leichten Anhöhe über dem Ort umringt von Wiesen. An die Kühe im Stall kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es gibt ein paar Fotos von mir als Dreijähriger auf einem Heuhaufen im Stadel oder im Sommer auf der Weide mit einem Hüterstock in der Hand. Mein Großvater musste unsere Landwirtschaft aufgrund einer Erkrankung aufgeben, als ich noch ein Kleinkind war und mein Vater weder Zeit noch Interesse daran hatte. Meine Mutter führte dafür auf unserem Hof aber die Gästepension weiter, nachdem schon die Großeltern im Nebenerwerb mit Zimmervermietung begonnen hatten.
Als Kind empfand ich es manchmal als lästig, auf die Gäste Rücksicht nehmen zu müssen, denn im Haus mussten mein Bruder und ich während der Saison leise sein. Die Weihnachtsbescherung im Kreise der Familie war auch immer recht kurz, weil am Abend auch noch die Feier mit den Gästen anstand. Gleichzeitig waren für mich die unterschiedlichen Begegnungen mit unseren „Fremden“, die zu dieser Zeit meistens schon „Gäste“ genannt wurden, interessant und bereichernd mit all ihren Lebensgeschichten und Weltanschauungen. Ich hatte schon in jungen Jahren den Eindruck, dass sozialer Status, Ausbildung oder Herkunft wenig Einfluss darauf haben, ob jemand vertrauenswürdig und umgänglich ist oder nicht, auch weil die Menschen im Urlaub ihre äußere Fassade leichter fallen lassen. Ein gescheiter Professor aus Hamburg konnte sich als unangenehmer Querulant entpuppen und ein einfacher Stahlarbeiter aus dem Ruhrpott als humorvoller, liebenswürdiger Zeitgenosse.
Unser Dorf war auch außerhalb der Urlaubszeit ein Mikrokosmos mit allen möglichen Charakteren. Es gab nette Menschen, weniger nette, engagierte und weniger engagierte. Ein alter Bauer, der gerade einmal die Volksschule abgeschlossen hatte, konnte einem oft mehr Lebensweisheit mitgeben oder über Zusammenhänge in der Natur erzählen als so manches kluge Buch. Wenn es mir leichtfällt, in meiner Arbeit für das Europäische Forum Alpbach mit Menschen ganz unterschiedlicher Hintergründe und Ansichten in Kontakt zu treten und mit ihnen auf Augenhöhe zu sprechen, ist der Grund wohl, dass ich das Zugehen auf Menschen schon in meiner Kindheit lernen konnte. Dabei hat mich immer auch viel Vertrauen in meine Mitmenschen und ihre Fähigkeiten, ganz egal woher sie kamen und wer sie waren, begleitet. Es ist die Grundlage für mein heutiges Verständnis von Demokratie. Wir alle sind fähig und mündig, an ihr teilzuhaben und an der Gestaltung unserer Gesellschaft mitzuwirken.
Ab den 1960er-Jahren erlebte mein Heimatdorf durch den Winter- und Sommertourismus einen markanten wirtschaftlichen Aufschwung. Zu Hause ersetzte ein roter Lindner-Traktor die beiden Rösser und aus dem Plumpsklo wurde ein WC. Meine Mutter bewahrt noch immer die grünen Gästebücher mit dem goldenen Schriftzug am Einband aus dieser Zeit auf. Die Bilder darin zeigen, wie die Urlauber gemütlich in der Stube sitzen, mit meinem Großvater am Gipfelkreuz unseres Hausbergs stehen, oder vor der Haustüre noch kurz vor der Abreise, selbstverständlich inklusive Familie und manchmal zwischen meterhohen Schneewänden. Fast jeder machte sich die Mühe, ein paar Zeilen im Buch zu hinterlassen, und einige verfassten sogar ganze Gedichte zu Ehren ihrer Gastgeber. In den 1970er-Jahren wurden wir an ein größeres Skigebiet angebunden und meine Familie entschloss sich, durch einen umfangreichen Umbau des Hofs den neuen Standards für die Zimmervermietung zu entsprechen. Anfang der 1990er-Jahre ging es mit dem Sommertourismus in der Region bergab. Die Westdeutschen fuhren ans Meer, die Ostdeutschen, die nach dem Mauerfall nachfolgten, kamen nur einmal. Sie wollten dann auch den Rest der Welt sehen.
Das Dorf hatte seine Sonnen- und Schattenseiten. Ein mächtiger Bürgermeister, er war später auch Landtagsabgeordneter, steuerte neben den Gemeindeangelegenheiten auch sein Sägewerk. Sein Bruder war zu dieser Zeit bereits Chef der Skilifte. Gegen die beiden brauchte man sich nicht aufzulehnen. Als dieser Bürgermeister Mitte der 1980er-Jahre in finanzielle Schwierigkeiten geriet, wollte er sein Sägewerk, das mitten im Ort — gleich gegenüber der Dorfkirche und des Gemeindeamts — stand, so gewinnbringend wie möglich verkaufen. Am selben Platz sollte nun ein riesiger Apartmentkomplex entstehen. Als meine Eltern die ersten Pläne zu Gesicht bekamen, waren sie äußert schockiert, denn da war kein kleines, gemütliches Dorfhotel mit ausreichend Grünfläche geplant, von dem ursprünglich die Rede war, sondern eine mächtige Trutzburg, die das gesamte Zentrum des Ortes beherrschen würde. Der Bau sollte bis zum Ufer des Baches reichen und dass die Gebäudemauern damit direkt in der Hochwasserzone stehen sollten, störte den Bürgermeister und die Projektentwickler genauso wenig, wie dass die Wohnungen im „Aparthotel“ viele Monate außerhalb der Saison leer stehen würden.
Ich kann mich gut daran erinnern, als meine Mutter, meine Großmutter, mein Vater und einige ihrer Freunde aus dem Ort eines Tages bei uns im Wohnzimmer zusammenkamen. Ich durfte ausnahmsweise länger aufbleiben und dem Gespräch lauschen. Meine Eltern und ihre Freunde hatten nichts gegen einen Hotelbau an sich. Aber könnte daraus nicht etwas werden, das unseren Ortskern verschönern würde, mit einem kleinen Vorplatz, einem Dorfbrunnen und einer Grünfläche? Die Fehler anderer Wintersportorte, in denen Apartmenthotels in großer Zahl leer standen und die Landschaft verschandelten, dürfe man nicht wiederholen, darin war man sich einig. Da kam meine Mutter auf die Idee, Unterschriften gegen den Bau zu sammeln.
So etwas habe es in der kleinen 800-Einwohner-Gemeinde noch nie gegeben, gaben die anderen zu bedenken, waren aber bereit mitzumachen und es zumindest zu versuchen. In den kommenden Wochen zogen meine Mutter und ihre Mitstreiter von Haus zu Haus. Die Leute waren zu Beginn überrascht, dass sich jemand gegen den mächtigen Bürgermeister zu opponieren traute. Doch die Argumente gegen das Bauprojekt und vor allem der Gegenvorschlag, der vorsah, ein an die Bedürfnisse des kleinen Dorfes angepasstes Konzept umzusetzen, leuchtete dann doch vielen Leuten ein.
Als ich an einem Herbsttag von der Schule nach Hause kam, begrüßte mich meine Mutter nicht nur freudig, sondern in großer Aufregung und rief: „Wir haben es geschafft!“ Mehr als 50 Prozent der Dorfbevölkerung hatten gegen das geplante Bauprojekt unterschrieben. Die Landesverwaltung wurde informiert und meldete zurück, dass man aufgrund dieser Vorbehalte das Vorhaben genauer unter die Lupe nehmen würde und es sehr gute Chancen gäbe, den Apartmentkomplex zu verhindern. Siegessicher trommelte meine Mutter ihre Mitstreiter ein paar Tage später bei uns zusammen. Sie malten sich gemeinsam aus, was nun entstehen könnte. Ein gemütliches Gasthaus mit Hotel, ein Dorfbrunnen, vielleicht auch ein paar Räume für verschiedene Veranstaltungen. Kurz: ein Bau, der zum Ort passen würde.
Doch dann begann meine Großmutter ernste Zweifel zu äußern. Sie hatte nie an den Erfolg der Unterschriftenliste geglaubt und sich deshalb nicht eingemischt. Jetzt warnte sie, dass der Investor sich zurückziehen könnte, wenn man das Projekt verhindere, der Bürgermeister den Grund daher vielleicht gar nicht verkaufen könne, in Konkurs gehen würde und wir für immer die Schuldigen wären. Wir, würde es dann heißen, hätten ihn in den Ruin getrieben und bräuchten uns im Ort dann nicht mehr blicken lassen.
Die Äußerungen meiner Großmutter wurden generell sehr ernst genommen, nicht nur in der Familie, sondern auch im Dorf. Sie hatte über Jahre den Hof mit meinem Großvater geführt und daneben noch für lange Zeit den örtlichen Tourismusverband geleitet und mit aufgebaut. Meine Mutter wollte ihrer Schwiegermutter gegenüber nicht klein beigeben und warf ihr vorauseilenden Gehorsam vor. Das Klima zwischen beiden wurde immer gereizter. Die Stimmung in der Gruppe drehte sich und nach einer langen Nacht wurden die Zweifel der anderen, inklusive die meines Vaters, immer größer. Meine Mutter gab auf und am Ende zog die „Rebellengruppe“ ihre Einwände bei der Landesregierung zurück. Der Bürgermeister verkaufte den Grund, tilgte seine Schulden und das Aparthotel wurde gebaut. Die meisten Wohnungen stehen heute leer, immer weniger Gäste wollen während ihres Urlaubs in einem Apartmentblock sitzen. Der Traum der sanften Dorfverschönerung war geplatzt. Ich fragte mich später oft, was gewesen wäre, wenn Bürgermeister und Dorfbewohner damals gemeinsam an einem vernünftigen Projekt gearbeitet hätten. Was wäre passiert, wenn man aufeinander zugegangen wäre, im Wissen, dass nur so eine