Die freundliche Revolution. Philippe Narval
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Vertrauensverlust in Institutionen
Bei all diesen Entwicklungen ist die repräsentative Demokratie nicht mehr konkurrenzlos, wenn es darum geht, welches Modell weltweit als Vorbild für Regierungsführung dienen soll. Immer öfter hört man in Gesprächen in und außerhalb Europas von den Vorteilen gelenkter Regime. Zum Beispiel wird die gelenkte Demokratie Singapurs aufgrund ihrer effizienten Verwaltung und wirtschaftlichen und sozialen Stabilität als beispielgebend erwähnt.
Das Vertrauen in die Demokratie als die beste Regierungsform schwindet auch in Österreich. In einer Umfrage des SORA Institute 2017 beantworteten 78 Prozent der Befragten die Frage „Ist Demokratie die beste Regierungsform?“ positiv, zehn Jahre davor waren es noch 86 Prozent. Parallel dazu weisen auch globale Erhebungen, wie der Edelman Trust Barometer, ein sinkendes Vertrauen in Regierungen und deren Vertreter besonders in westlichen Demokratien aus. Dieser Vertrauensverlust betrifft aber längst nicht nur die Politik. So misstrauen in Deutschland, Frankreich und England mehr als 60 Prozent der Gesamtbevölkerung den Institutionen der Wirtschaft, der Politik, der Medien und sogar jenen der Zivilgesellschaft.
Ist das verwunderlich? Die deutsche Autoindustrie wird nach dem Dieselskandal, einem massiven Betrug an den Kunden, zu einem lächerlichen Softwareupdate verpflichtet und weiter nichts. Wie würde es einem Fleischer ergehen, der seine Kalbswürste mit Gammelfleisch füllt, oder einem Bäcker, der sein Brot mit Sägemehl versetzt? Die Finanzkrise in Europa wird mit der Rettung von insolventen Banken und kosmetischen Eingriffen in die Gesetzgebung für „beendet“ erklärt, auch wenn uns die Staatsschulden, die daraus zusätzlich entstanden sind, über Generationen hinweg belasten werden. Wie ergeht es einem Arbeiter, der seinen Wohnungskredit nicht mehr bezahlen kann oder die Zinsen für seinen Konsumkredit? Als Bürger brauche ich kein Hochschulstudium, um zu erkennen, dass hier etwas falsch läuft.
Die Politik erweckt damit den Eindruck, Probleme nicht mehr lösen zu können. Das hängt auch mit den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen seit den 1970er-Jahren zusammen. Seit dieser Zeit erleben wir eine Verlagerung der realwirtschaftlichen Aktivitäten hin zur Finanzspekulation. Eine dadurch steigende Einkommens- und Vermögensungleichheit lässt die Mittelschicht in Europa erodieren. Sie aber ist der Garant stabiler gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Enthüllungen der sogenannten „Paradise Papers“ über die Steuertricks der Reichen haben bei vielen den Eindruck verstärkt, dass die Eliten nichts von der Idee einer solidarischen Gesellschaft halten.
Von Politik- und Bürgerverdrossenheit
Die Politik kämpft dabei nicht nur mit gesellschaftlichen Problemen, sondern auch mit Problemen im Inneren. Macht isoliert und schottet immer zu einem gewissen Teil ab, im Extremen verliert sie den Bezug zur Lebensrealität und die Empathiefähigkeit. Die fehlende Durchlässigkeit der politischen Machtstrukturen wird dadurch verstärkt, dass heute die Mehrheit der Verantwortungsträger, seien es Minister, Landesräte oder Abgeordnete, fast immer Berufspolitiker sind und wenige Ankerpunkte außerhalb des Systems haben. Als Politiker lernt man Bürger dann entweder nur noch als Bittsteller mit einer Forderung oder im Netz als „Wutbürger“ kennen, aber nicht als kompetente Mitmenschen. Schwache Parlamente lassen sich Gesetze von einer immer dominanteren Exekutive zur Entscheidung vorlegen, anstatt selbst Initiative zu ergreifen. Gleichzeitig wundern sich jene engagierten und verantwortungsvollen Politiker zu Recht, wenn gute Arbeit nicht honoriert wird und pauschal eine gesamte Klasse mit Verachtung vorverurteilt wird. Die jährlich wiederkehrenden Diskussionen um die scheinbar zu hohen Politikergehälter tragen außerdem dazu bei, dass auch in der Politik eine „Bürgerverdrossenheit“ zu verspüren ist.
Dieses Gefühl ist jedoch teilweise auch berechtigt. Zu oft erlebt man, wie Bürger ihr egoistisches Eigeninteresse über das öffentliche stellen. Schnell ist eine Initiative gegründet, um gegen dieses oder jenes Bauvorhaben zu mobilisieren, auch wenn dieses dem Gemeinwohl dienen sollte. Auf Englisch werden diese militanten Verhinderer „Nimbys“ genannt, nach den ersten Buchstaben von „Not in my backyard!“. („Nicht in meinem Hinterhof!“)
Die Menschen sind es gewohnt, in der „Alles-und-sofort“-Konsumkultur ihre Wünsche schnell befriedigen zu können und verzweifeln oft an der Langsamkeit von politischen Entscheidungsprozessen, weil ihnen das nötige Verständnis für die Notwendigkeit der Abwägung und Kompromissfindung fehlt, die unsere Demokratie auszeichnet. Die Apathie, die sich über Jahrzehnte durch eine sinkende Wahlbeteiligung manifestiert, ist ebenso wenig gerechtfertigt wie das Ignorieren legitimer Bürgeranliegen durch die Politik. Bürgerschaft und Politik scheinen sich also auseinandergelebt zu haben und Misstrauen prägt ihr Verhältnis.
Verantwortung für unseren Planeten Erde übernehmen
Dabei brauchen besonders Zeiten der Veränderung Handlungsfähigkeit und Vertrauen ineinander, denn die Probleme, die unsere Gesellschaften zu bewältigen haben, sind enorm. Zu oft blenden wir sie aus, denn wir haben uns gut eingerichtet in unserer marktkonformen Gesellschaft, die über Jahrzehnte versprochen hat, dass es jeder nächsten Generation materiell besser gehen wird. Wir spüren nun, dass diese Erzählung nicht mehr trägt und sich auch das über 12.000 Jahre dauernde Erdzeitalter Holozän überholt hat. Das Ende dieses Erdzeitalters, das unserem Planeten über lange Perioden stabile ökologische und klimatische Bedingungen beschert hat, ist ganz unaufgeregt eingeläutet worden. Die Wissenschaftler der Internationalen Stratigrafischen Gesellschaft haben entschieden, dass genügend Evidenz vorliegt, um ein neues Erdzeitalter mit dem Namen Anthropozän auszurufen. In ihm ist der Mensch der bestimmende Faktor im Ökosystem. Jetzt müssen die Wissenschaftler nur noch festlegen, welche Marker in den Sedimentschichten des Planeten den offiziellen Beginn am besten darstellen. An Auswahl mangle es nicht, so die Geologen: Sie reicht von radioaktiven Sedimenten, die wir den ersten Atomtests der 1950er-Jahre verdanken, bis zum massiven Auftauchen von Hühnerknochen – dem Totemtier der Massentierhaltung schlechthin – auf den Mülldeponien unseres Planeten. Irgendwo in den Dekaden der Babyboomer der 1950er- und 1960er-Jahre wird er aber liegen, der offizielle Beginn unserer planetarischen Allmacht.
Wie kann eine Gesellschaft aussehen, die dem Globus wieder Respekt und Würde verleiht und unsere planetarischen Grenzen respektiert? Wie gelingt der Kulturwandel hin zu einem „Planetary Stewardship“, also einer Haltung von globaler Verantwortung und Fürsorge, wenn der Konflikt mit den Naturgewalten und Mangelsituationen, denen der Mensch über Jahrtausende ausgeliefert war, so tief in unserem Unterbewusstsein verankert scheint? Kein anderer als das Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Franziskus, stellt diese Frage in seiner 2015 veröffentlichten Enzyklika Laudato si. Es mag ironisch sein, dass der höchste Vertreter einer Institution, die über Jahrhunderte hinweg nicht gerade ein Treiber von Aufklärung und Wissenschaft war, nun auf Basis fundierter wissenschaftlicher Erkenntnisse als Mahner für Umwelt und Klimaschutz auftritt. Doch das macht seine Fragen nicht minder relevant.
Konfliktlinien brechen auf
Über diese Fragen nachzudenken, ist in Zeiten wie diesen mehr als dringlich, denn große Konfliktlinien brechen gerade auf: zwischen Generationen, zwischen Nationalstaaten und zwischen den Menschen in erfolgreichen Technologiezentren und Menschen an der Peripherie – um nur einige zu nennen. Das bringt eine supranationale Institution wie die Europäische Union in Bedrängnis. Dennoch ist die EU wohl das erfolgreichste Beispiel von Kooperation und Konfliktlösung beziehungsweise -vermeidung. Ihre größte Leistung ist es, Institutionen geschaffen zu haben, in denen man „gemeinsam handelt“. Doch in den jetzigen Krisenzeiten kann sich offenbar niemand in Europa wirklich vorstellen, über das eigene Heimatland hinaus solidarisch zu sein.
Eine kleine Minderheit fordert eine Europäische Republik und damit die Aufgabe der Nationalstaaten.