Die freundliche Revolution. Philippe Narval
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Parallel dazu konnte man in den USA seit den 1970er-Jahren neben der wachsenden politischen Ungleichheit eine real ansteigende Ungleichheit bei den Einkommen nachweisen. Der französische Ökonom Thomas Piketty und sein Kollege Emmanuel Saez belegten unter anderem in einer 2014 im Wissenschaftsmagazin Science erschienenen Studie, dass der Abstand zwischen den Top 10 Prozent der Einkommensbezieher und dem Rest immer größer wurde. In den USA war seit den 1970er-Jahren der Anteil, den diese Elite am gesamten nationalen Lohnkuchen hatte, von knapp 35 auf fast 50 Prozent angestiegen. Die Reichen verdienten mehr, die Einkommen der Mittelschicht und der Armen stagnierten oder sanken. Diese Einkommensungleichheit ist gepaart mit einer wachsenden Ungleichheit bei den Vermögen. Piketty schätzt, dass die reichsten 10 Prozent unter den Amerikanern 70 Prozent des Gesamtvermögens im Land besitzen.
Der Nobelpreisträger Robert J. Shiller, der als Berater von Banken und Finanzkonzernen und überzeugter Anhänger der Globalisierung nicht im Verdacht steht, ein Linker zu sein, warnte schon 2013 vor der Zersetzung der Gesellschaft. Durch die wachsende Ungleichheit zerfalle diese immer stärker in eine „kosmopolitische Klasse“ und eine „lokale Klasse“. Die eine ist weltgewandt und vermögend, bestens gebildet und bestens bezahlt, während die Mitglieder der Unter- und Mittelschicht real kaum mehr verdienen als vor zwanzig Jahren und froh sind, wenn sie ihren Job nicht verlieren.
Auch wenn die Situation in Europa nicht gänzlich mit der in den USA vergleichbar ist, sollte uns dennoch klar sein, dass wachsende Ungleichheit und die fehlende Berücksichtigung der Anliegen breiter Bevölkerungsschichten am Ende den Glauben an die Demokratie als beste aller Regierungsformen zerstören. Das Erstarken autoritärer Regime in Osteuropa, der Brexit und die Erfolge rechter und linker Extremisten überall auf unserem Kontinent sollten uns auf jeden Fall zu denken geben.
Es mag nicht rational, sondern sogar kontraproduktiv für ihre eigenen Interessen und langfristig zerstörerisch für alle sein, wenn Bürger in dieser Lage Populisten wählen. Auch wenn ich sie nicht gutheiße, kann ich diese Entscheidungen zumindest nachvollziehen. Ich weiß, dass AfD- oder Le-Pen-Wähler überwiegend keine hasserfüllten Menschen sind, die Böses wollen, wie mancher abgeklärte Kommentator es gerne darstellt. Natürlich ist es am einfachsten, wenn wir diesen Wählern absprechen, auf Basis von Werten und ernstgemeinten Anliegen zu entscheiden. Aber damit werden wir auch nie verstehen, welche tieferen Gründe hinter den Wahlentscheidungen der Menschen stehen.
Nicht alle diese Gründe sind legitim und nicht alle Sorgen sind gleichermaßen berechtigt, aber eines ist klar: Derzeit sind die Populisten Europas oft die Einzigen, die das innere Gefühl der Verunsicherung der Menschen ansprechen und bestätigen. Sie sagen klar, dass etwas falsch läuft, auch wenn ihre Schlüsse falsch sind und sie am Ende nichts anzubieten haben, außer den Zustand der permanenten Unsicherheit und Angst aufrechtzuerhalten.
Wir können jetzt fortfahren und weiter bejammern, wie unreif Menschen sind, die diesen Argumenten Glauben schenken, während ihre Zahl immer größer wird. Alternativ können wir karitativ, herablassend fordern, dass wir diese Menschen wieder erreichen müssen und zu ihnen gehen sollen, ohne es wirklich zu meinen, weil wir insgeheim die Brutwärme schicker Cafés mit Baristas und WLAN nicht verlassen wollen oder weil wir vielleicht auch ein Stück weit Verachtung verspüren gegen die großen Flatscreens an der Wand, die Tiefkühlpizza und den Trainingsanzug in den Vorstädten – so stellt sich mancher die Welt dieser Wähler nämlich vor. Sind wir ehrlich bereit, einmal ein offenes und ehrliches Gespräch zu führen, dem anderen zuzuhören und auf seine Argumente, auch wenn sie vielleicht nicht immer politisch korrekt sind, einzugehen? Sind wir bereit, auf Augenhöhe und nicht aus Überlegenheit heraus in einen Dialog zu treten und im Notfall auch kultiviert zu streiten?
Die Erklärungsversuche der Krise unserer Demokratie füllen schon ganze Regalwände in den Buchhandlungen, aber können sie auch als Weckruf dienen? Ein Weckruf, der uns dazu anspornt, die Art und Weise, wie wir unser demokratisches Zusammenleben organisieren, grundlegend zu erneuern, um Menschen wieder reale Teilhabe zu ermöglichen? Lange Zeit waren Demokratie und Politik Thema für Sonntagsreden. Es war langweilig, sich damit zu beschäftigen, und schwer zu verstehen, warum wir etwas an einem System ändern sollten, das nach außen hin den Anschein machte, gut zu funktionieren. Wir hatten ein angenehmes Leben und überließen das Entscheiden den Profis, die dafür gewählt wurden und über die man sich immer und überall unhinterfragt beschweren konnte, genauso wie über das Wetter. Es geriet in Vergessenheit, dass die Institutionen unseres Rechtsstaats und unsere Bürgerrechte das Ergebnis eines jahrhundertelangen Kampfes um mehr Mitbestimmung und Gleichberechtigung auf unserem Kontinent sind.
→ Demokratie war immer im Werden und viele Freiheiten, die uns heute als selbstverständlich erscheinen, wurden vor gar nicht allzu langer Zeit errungen.
Der Kampf um Mitbestimmung
Unsere westliche Demokratie wurde ursprünglich als Elitenprojekt aufgesetzt und man misstraute den „unberechenbaren Massen“ über lange Zeit. Über Einschränkungen des Wahlrechts konnten lediglich wohlhabende weiße Männer mitentscheiden. Das war in vielen Staaten Europas, in denen man nach den Napoleonischen Kriegen allmählich das auf eine kleine Gruppe beschränkte Wahlrecht einführte, ebenso der Fall wie in den USA, die sich Ende des 18. Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit von der britischen Krone erkämpften. Die Demokratiegeschichte ist deshalb auch ein Aufbegehren der Ausgegrenzten gegen eine mächtige, kleine Elite gewesen, die mit der Zeit und auch als Folge von Wirtschaftskrisen und Weltkriegen ein Stück ihrer Macht aufgeben mussten. Nehmen wir das Beispiel des Frauenwahlrechts, das die damals gerade gegründete Österreichische Republik 1918 als eines der ersten Länder in Kontinentaleuropa einführte. In Frankreich wurde dieses für uns heute selbstverständliche Recht erst nach dem Zweiten Weltkrieg gesetzlich verankert und im Musterland der „direkten Demokratie“, der Schweiz, mussten Frauen bis 1971 warten, um bei Parlamentswahlen ihre Stimme abgeben zu dürfen.
Es ist an der Zeit, diesen Kampf für eine lebendige Demokratie wiederaufzunehmen. Anders als in der Vergangenheit geht es in den reifen Demokratien Europas nicht um die Ausweitung des Wahlrechts oder unserer Grundrechte, sondern um das Eintreten für eine neue Kultur der Beteiligung und der verantwortungsbewussten Bürgerlichkeit. Dabei müssen wir zuerst den Glauben an die Gestaltungsmacht der Politik und unsere eigene Verantwortung in ihr zurückgewinnen. Wie oft haben wir über Jahre das Mantra nach der Unfähigkeit der Politiker nachgebetet, anstatt uns selbst zu engagieren? Wie oft haben wir uns den Satz „Auf mich kommt es nicht an“ vorgesagt? Wie oft haben wir uns gedacht: „Ich kann ja keinen Unterschied machen.“? Aber genau an dieser Haltung droht unsere Gesellschaft zu zerbrechen.
→ Jeder und jede von uns kann und muss einen Beitrag leisten, denn es gibt kein Dauerabonnement auf Demokratie.
Wir sind zu lange der Überzeugung nachgehangen, dass die Märkte für Wohlstand und Sicherheit sorgen können. Dieses Weltbild, das auf einem rational, nach Eigeninteressen handelnden „Homo Oeconomicus“ aufbaut, kristallisierte sich im Credo Margaret Thatchers: „There is no alternative.“ Damit meinte die 2013 verstorbene ehemalige britische Premierministerin, dass es keine Alternative zum Gesellschaftsmodell des freien, allumfassenden Marktes und der Selbstentfaltung im immerwährenden Konsum gäbe. Wir haben durch die Dominanz dieses Denkens nicht nur verlernt, unser gängiges Gesellschaftsmodell zu hinterfragen, sondern auch die Politik entpolitisiert und damit die Menschen entmutigt, ihre Zukunft zu gestalten. Der Markt wird alles lösen, oder wie wir nun oft aus dem Silicon Valley hören: Die digitale Revolution wird alle Probleme beseitigen.