Die Forsyte-Saga. John Galsworthy

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Die Forsyte-Saga - John Galsworthy

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nichts – mir sagt keiner was!«

      Tante Ann schüttelte den Kopf. Ein Zittern überflog ihr geierähnliches altes Gesicht mit dem eckigen Kinn; die spindeldürren Finger preßten und verflochten sich in einander, als wäre sie bemüht, ihre Willenskraft immer aufs neue anzuspannen.

      Sie war um einige Jahre älter als die übrigen Forsytes und nahm deshalb eine besondere Stellung unter ihnen ein. Obwohl allesamt Opportunisten und Egoisten – wenngleich nicht mehr als ihre Nachbarn auch – schwand ihre Sicherheit doch ihrem unbestechlichen Wesen gegenüber, und wurde es ihnen einmal zu arg, so gingen sie ihr lieber aus dem Wege!

      James schlug die langen dünnen Beine über einander und fuhr fort:

      »Jolyon muß immer seinen eigenen Weg gehen. Er hat keine Kinder –« hier stockte er, denn ihm fiel ein, daß des alten Jolyon Sohn, der junge Jolyon, Junes Vater, noch existierte, der eine solche Torheit begangen und sich selbst um alles gebracht hatte, als er Weib und Kind im Stiche gelassen und mit der ausländischen Erzieherin durchgegangen war. »Na,« fing er hastig wieder an, »wenn er so was tut, muß er sich's wohl leisten können. Was gibt er ihr denn mit? Wohl tausend Pfund jährlich; er hat ja sonst niemand, dem er sein Geld hinterlassen kann.«

      Er streckte die Hand aus, um sie einem lebhaften, glattrasierten Manne mit eingeknickter Nase, dicken Lippen und kalten grauen Augen unter rechtwinkligen Brauen zu reichen, der kaum ein Haar auf dem Kopfe hatte.

      »Na, Nick,« brummte er, »wie geht's?«

      Mit seiner vogelartigen Geschwindigkeit und dem Aussehen eines übernatürlich braven Schuljungen legte Nicholas Forsyte (er hatte es bei den Gesellschaften, deren Direktor er war, durchaus rechtmäßig, zu einem großen Vermögen gebracht) in diese kalte Hand seine noch kälteren Fingerspitzen und zog sie schnell wieder zurück.

      »Mir geht's schlecht,« sagte er verdrießlich – »die ganze Woche schon; kann nachts nicht schlafen, der Doktor weiß nicht warum. Er ist ein tüchtiger Kerl, sonst hätte ich ihn nicht, aber ich bekomme nichts als Rezepte aus ihm heraus.«

      »Doktoren!« fiel James ihm scharf ins Wort. »Ich hatte die Doktoren von ganz London für uns. Aus denen ist nichts Vernünftiges herauszubekommen, sie sagen einem irgend etwas. Da nimm zum Beispiel Swithin. Was haben sie dem genützt? Er ist dicker denn je, geradezu unförmig; sie bekommen sein Gewicht nicht herunter. Sieh ihn nur an!«

      Swithin Forsyte, groß, vierschrötig und breit, mit einer Brust wie ein aufgeplusterter Täuberich im Staat seiner hellen Westen, kam gerade auf sie zustolziert.

      »'n Tag, wie geht's,« sagte er in seiner stutzerhaften Weise.

      Jeder der Brüder nahm eine gedrückte Miene an, wenn er die andern beiden ansah, denn er wußte aus Erfahrung, daß sie versuchen würden, seine Leiden durch die ihren in Schatten zu stellen.

      »Wir sprachen eben davon,« sagte James, »daß du gar nicht dünner wirst.«

      Swithins helle runde Augen quollen bei der Anstrengung hervor, die das Hören ihm bereitete.

      »Dünner? Ich bin ganz zufrieden,« sagte er und neigte sich etwas vor, »nicht so ein Zwirnsfaden wie du!«

      Aber in der Furcht etwas von seiner Stattlichkeit einzubüßen, nahm er wieder seine unbewegliche Haltung an, denn ihm ging nichts über eine distinguierte Erscheinung.

      Tante Ann ließ ihre alten Augen von einem zum andern schweifen. Ihr Blick war ernst und mild. Die drei Brüder wiederum blickten Tante Ann an. Sie begann klapprig zu werden. Eine wunderbare Frau! Bald sechsundachtzig, und konnte gut noch zehn Jahre länger leben, dabei war sie nie sehr kräftig gewesen. Swithin und James, die Zwillinge, waren erst fünfundsiebzig, Nicholas ein wahres Baby an die siebzig. Alle waren gesund und die Aussichten darum tröstlich. Von allem Besitz lag ihre Gesundheit ihnen natürlich am meisten am Herzen.

      »Mir geht's eigentlich recht gut,« fuhr James fort, »aber meine Nerven sind nicht in Ordnung. Die geringste Kleinigkeit ärgert mich zu Tode. Ich werde nach Bath gehen müssen.«

      »Bath!« sagte Nicholas. »Ich hab's mit Harrogate versucht. Das hat gar keinen Zweck. Ich brauche Seeluft. Es geht nichts über Yarmouth. Wenn ich dort bin, schlafe ich –«

      »Mit meiner Leber steht's schlimm,« unterbrach ihn Swithin langsam. »Scheußliche Schmerzen hier,« und er legte die Hand auf die rechte Seite.

      »Mangel an Bewegung,« brummte James mit einem Blick auf die Porzellanschale. Schnell fügte er hinzu: »Habe da auch Schmerzen.«

      Swithin wurde rot, sein altes Gesicht erinnerte an einen Truthahn.

      »Bewegung!« sagte er. »Die hab ich reichlich. Ich benutze nie den Fahrstuhl im Klub.«

      »Davon wußte ich nichts,« fiel James ein. »Ich weiß überhaupt von nichts; mir sagt keiner was.«

      Swithin glotzte ihn an und fragte:

      »Was tust du gegen die Schmerzen da?«

      James leuchtete auf.

      »Ich,« begann er, »ich nehme eine Mischung von –«

      »Wie geht's, Onkel!«

      June stand mit ausgestreckter Hand vor ihm und reckte ihr resolutes Gesichtchen empor zu dem seinen.

      Das Leuchten in James Gesicht erlosch.

      »Guten Tag,« sagte er unwirsch. »Du willst also morgen nach Wales, um die Tanten deines Verlobten zu besuchen? Da regnet es immer.« Er beklopfte die Schale: »Dies ist kein echtes altes Worcester. Das Service, das ich deiner Mutter zur Hochzeit schenkte, das war echt.«

      June schüttelte ihren drei Großonkeln der Reihe nach die Hand und wandte sich darauf zu Tante Ann. Ein inniger Ausdruck war in das Gesicht der alten Dame gekommen, sie küßte dem Mädchen die Wange mit zitternder Inbrunst.

      »Nun, mein Kind,« sagte sie, »du willst also auf einen ganzen Monat fort?«

      Das junge Mädchen ging weiter, und Tante Ann sah der zierlichen kleinen Gestalt nach. Die runden, stahlgrauen Augen der alten Dame, die sich wie bei einem Vogel mit einem Häutchen zu überziehen begannen, folgten ihr nachdenklich durch das lärmende Gedränge, denn die Gesellschaft fing gerade an aufzubrechen; und ihre Fingerspitzen preßten sich in erneuter Anspannung ihrer Willenskraft wie zur Abwehr gegen jene unabwendbar letzte Reise immer fester an einander.

      »Ja,« dachte sie, »es waren alle sehr freundlich; so viele kamen, um ihr zu gratulieren. Sie müßte so recht glücklich werden.«

      Von den Gästen, die sich an der Tür drängten – lauter gutgekleidete Leute aus den Kreisen von Juristen, Ärzten, Kaufleuten und andern zahllosen Berufen des bessern Mittelstandes – waren nur etwa zwanzig Prozent Forsytes. Aber Tante Ann schien alle als Forsytes zu betrachten – und ein großer Unterschied war allerdings auch nicht vorhanden – sie sah nur ihr eigen Fleisch und Blut. Die Familie, das war ihre Welt, und für sie gab es keine andere, hatte es vielleicht nie eine andere gegeben. Alle ihre kleinen Geheimnisse, Krankheiten, Verlobungen und Heiraten, wie sie vorwärts kamen und ob sie Geld verdienten: alles dies war ihr Eigentum, ihre Freude, ihr Leben; darüber hinaus gab es nur einen vagen, schattenhaften Nebel von Ereignissen und Personen ohne eigentliche Bedeutung. Das würde sie eines Tages aufgeben müssen, wenn

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