Gesundheit – ein Gut und sein Preis. Sabine Predehl

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Gesundheit – ein Gut und sein Preis - Sabine Predehl

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ziemlich flächendeckend organisiert. Der Staat kümmert sich um beides, um die medizinische Wissenschaft wie um ein effektives Gesundheitswesen. Er macht sich das elementare Interesse seiner Bürger an Betreuung, Hilfe und Wiederherstellung im Krankheitsfall zu eigen, weil ihm genauso wie denen selbst an ihrer Tauglichkeit für den bürgerlichen Alltag und insbesondere für ein ordentliches Erwerbsleben gelegen ist. Die Verhältnisse, unter denen ein Volk sich und seinen Staat erhält, sollen schließlich produktiv bewältigt werden. Volksgesundheit ist dafür eine ganz wesentliche Voraussetzung und deswegen als wichtige Staatsaufgabe anerkannt.

      Das individuelle Schicksal, krank zu werden, ist in der heutigen Welt freilich noch in einer anderen Hinsicht nicht einfach als Naturprozess abzubuchen. Gewiss ist dann in der Regel die Physis, oft genug immerhin auch oder zuerst die gar nicht so naturwüchsige Psyche des Individuums angegriffen. Was die menschliche Natur da „angreift“, ist in der modernen Welt aber meistens gar nicht oder nicht allein „die Natur“. In der Hauptsache haben Menschen heutzutage solche Belastungen von Leib und Seele auszuhalten und halten sie oft genug gar nicht gut aus, die eben die Gesellschaft ihnen beschert, in der es ihnen so sehr auf ihre Lebenstüchtigkeit und speziell auf ihre Erwerbsfähigkeit ankommen muss und deswegen auch ihrem Staat auf ein Gesundheitswesen ankommt. Vieles, was in früheren Zeiten „die Natur“ – und da auch schon nicht bloß die, sondern mitentscheidend die Natur ihrer gesellschaftlichen Beziehungen – den Menschen in Sachen Krankheit, Seuchen und Siechtum angetan hat, hat die moderne Medizin zurückgedrängt. In den Zentren des gesellschaftlichen Fortschritts hat sie es dafür umso mehr mit den direkten und indirekten Konsequenzen einer gar nicht naturwüchsigen Beanspruchung der menschlichen Naturausstattung zu tun; mit Belastungen, die zu einem großen Teil ihrerseits ohne dauernde medizinische Betreuung gar nicht so standhaft auszuhalten wären, bis sich das „Vollbild“ der „modernen Seuchen“ entwickelt hat.

      Insofern ist das moderne Gesundheitswesen in ganz besonderer Weise nützlich, ja unentbehrlich für ein gesellschaftliches System, das mit seinen Belastungen die Masse der Leiden generiert, die dieses „Wesen“ zu betreuen hat. Zu seiner Funktionalität für die „herrschenden Verhältnisse“ trägt der Umstand nicht wenig bei, dass die praktisch wie theoretisch darin engagierte Fachwelt einen solchen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Ursache und physiologischer bzw. psychischer Wirkung zwar kennt und in ihre Diagnosen und Therapieansätze mit einbezieht – schließlich hat sie es „mit Menschen zu tun“ und nicht mit Zellkulturen –, von den belastenden gesellschaftlichen Notwendigkeiten, an denen ihr Patientengut laboriert, aber nicht mehr wissen will, als was sich wissenschaftlich in statistisch signifikanten Korrelationen abzeichnet und praktisch in Ratschläge für ein „gesünderes Leben“ umsetzen lässt. Und auch in einer anderen Hinsicht passt der medizinische Betrieb gut zu dem System der politisch betreuten Ökonomie, das ihm so viel zu tun und zu erforschen gibt: Er ist selber ein ganz großes Geschäft und auch insofern aus dem Kapitalwachstum in einer modernen Volkswirtschaft nicht wegzudenken.

      © 2020 GegenStandpunkt Verlag

      I. Die „modernen Volksseuchen“

      Die ganze Welt, die öffentliche wie die private, ist voll von Gesundheitstipps. An jeder Ecke, aus berufenem und unberufenem Mund, erwünscht oder nicht, sind Ratschläge zu haben, wie man fit und gesund bleibt, den Krankheiten entgeht, an denen die Masse der hochzivilisierten Zeitgenossen laboriert und stirbt, was vorbeugend gegen die und begleitend zu den häufigsten Leiden zu tun ist. Offenbar ist ganz selbstverständlich, gilt jedenfalls unwidersprochen, dass viele und gerade die am meisten verbreiteten Gebrechen eine Sache des „Lifestyle“, des Umgangs der Menschen mit ihren Lebensumständen sind. Und irgendwie ist in all diesen wohlmeinenden zweckdienlichen Hinweisen explizit oder stillschweigend unterstellt, dass mit diesen „Umständen“ selber etwas nicht in Ordnung sein kann, wenn die Menschen ihnen mit Vorsicht und Geschick die Erhaltung ihrer Gesundheit abringen müssen.

      Tatsächlich ist überhaupt nicht unbekannt, dass die alles andere als natürlichen Gegebenheiten, die ein durchschnittliches bürgerliches Leben bestimmen, mehr oder weniger ursächlich sind für eine Mehrzahl der Leiden, die die moderne Menschheit quälen und am Ende umbringen. Der Zusammenhang von Ursache und Wirkung hat sogar einen Namen: Was früher Pest und Seuchen waren, das sind heute die Zivilisationskrankheiten. Der einschlägigen Begriffsbestimmung – Leiden, „deren Häufigkeit (Inzidenz) einen sehr wahrscheinlichen Zusammenhang mit den Lebensgewohnheiten bzw. -verhältnissen aufweist, wie sie in Industrieländern vorherrschen“ – lässt der medizinische Sachverstand zwar postwendend eine Art Dementi folgen:

      „Der Begriff der ‚Zivilisationskrankheit‘ ist insofern missverständlich, als dass eine verbesserte soziale und ökonomische Infrastruktur nicht automatisch Krankheiten nach sich zieht, sondern – im Gegenteil – eine Verbesserung der medizinischen Versorgung bedeutet. Zivilisationskrankheiten werden nicht durch die Zivilisation selbst, sondern durch einen ungesunden, der menschlichen Physiologie nicht entsprechenden Lebensstil verursacht...“ (flexikon.doccheck.com)

      Doch was hilft schon der gutgemeinte Hinweis, dass eine „Infrastruktur“ „nicht automatisch“ krank macht, sondern immer noch jemand dazugehört, der tatsächlich „ungesund“ lebt? Wenn der entsprechende „Lebensstil“ eine so hohe „Inzidenz“ aufweist und dessen gesundheitliche Folgen einen so „wahrscheinlichen Zusammenhang mit den Lebensgewohnheiten bzw. -verhältnissen“ in den „Industrieländern“, dann wird der Stil schon zu den Verhältnissen passen. Und am Ende ist dann doch gar nicht so entscheidend, wie sich einer den Umgang mit seinen Existenzbedingungen zurechtstilisiert – sehr individuell scheint das ja ohnehin nicht zu gelingen –, sondern was der Mensch im Rahmen seiner stilvollen Lebensführung tagaus tagein zu bewältigen hat.

      Fest steht jedenfalls, statistisch ordentlich ermittelt: Es ist relativ überschaubar, woran die Masse der industrialisierten Wohlstandsbürger in der zivilisierten Welt typischerweise zu leiden und zu sterben pflegt:

      Der Befund dürfte weder Zufall sein noch Folge eines massenhaften Beschlusses, mit eigentlich ganz gut verträglichen europäischen Lebensbedingungen konsequent unvernünftig umzugehen. Er verweist auf Belastungen, und zwar sehr stereotype, die diese zivilisierten Verhältnisse ihren Insassen zumuten, deren Bewältigung die sich auch selber im Rahmen eines ebenso stereotypen Lebensstils abverlangen – und die auf Dauer eben nicht auszuhalten sind. Welche Belastungen und welche Leistungen das sind, das ist an den pathologischen Folgen manchmal noch deutlich zu sehen und manchmal auch nicht. Insgesamt sprechen die „Volksseuchen“ deutlich genug für sich – sollte man meinen.

      Den seit Jahrzehnten ungeschlagenen Spitzenplatz der beliebtesten Todesursachen halten die Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Obwohl die Medizin hier viel im Griff hat, das Legen von Herzkathetern heutzutage zu den Routineuntersuchungen der Kardiologen zählt, Bypässe, Stents und Shunts haufenweise verlegt werden und – laut einschlägigen Studien – schon so manche salzarme Diät einen Bluthochdruck verhindert haben soll, sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen nach wie vor „in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamts aktuell für 41 Prozent aller Todesfälle verantwortlich – und damit die mit Abstand häufigste Todesursache“ (H. Greten; Innere Medizin, 2010, S. 253).

      Grundlage

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