Gesundheit – ein Gut und sein Preis. Sabine Predehl
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Ein altbekannter, aber dafür nicht weniger verbreiteter Schlager der modernen Volkskrankheiten sind Muskel- und Skeletterkrankungen.
„Jeder Dritte, der zum Orthopäden geht ... tut dies wegen Rückenschmerzen... Viele von unspezifischen Rückenschmerzen Geplagte gehören der vergleichsweise jungen, jedenfalls mitten im Berufsleben stehenden Altersgruppe der 30- bis 50-Jährigen an.“ (Dieses wie das folgende Zitat aus: www.apotheken-umschau.de)
Dass das Volk so flächendeckend „Rücken hat“, ist „meist eine Folge ständiger Überstrapazierung oder Vernachlässigung des Rückens. Das erklärt sich durch ein wichtiges Prinzip der Muskelarbeit: das Zusammenwirken eines Spielers und Gegenspielers beziehungsweise entsprechender Muskelgruppen. Wenn Kraftakte bestimmte Spieler- oder Gegenspieler-Muskeln überfordern oder Inaktivität sie verkümmern lässt, kommt es zu Verspannungen, Überdehnungen, Verkürzungen und schließlich Schmerzen.“
Je nach individueller Robustheit der Gelenke und betriebenem Ausgleich kommt es deshalb auch früher oder später zu Gelenkschäden.
Chronische Atemwegserkrankungen sind ebenso weit verbreitet. Wer eine chronische Reizung seiner Atemwege lange genug aushält – „die Beschwerden entwickeln sich langsam über Monate bis Jahre“ –, hat gute Chancen auf eine nicht mehr ausheilbare Bronchitis. Werden die Bronchialschleimhäute durch Stäube, Schad- und Reizstoffe dauerhaft belastet, werden diese irreversibel geschädigt; bei fortdauernder Belastung kommt es zu einer chronifizierten Entzündung der Bronchien, in deren Folge Lungengewebe zerstört wird, so dass in der Lunge kein Gasaustausch, also keine regelrechte Atmung mehr stattfinden kann:
„Bei chronischer Reizung der Atemwege kommt es zu Umbauvorgängen mit Vermehrung seröser und muköser Drüsen und Zerstörung der normalen Schleimhautarchitektur. Die oralwärts schlagenden Zilien werden zunehmend zerstört und sind dann nicht mehr in der Lage, den Schleim aktiv zu transportieren. Dem Patienten mit schwerer chronischer Bronchitis dient dann nur noch der Hustenstoß als effektiver Clearencemechanismus. Kontraktion der Bronchialmuskulatur, entzündliche Infiltration der Bronchialschleimhaut ... führen zur chronischen Bronchialverengung, Bronchiektasenbildung und Instabilität der Atemwege. Durch die chronische Entzündung kommt es weiterhin zu einem Ungleichgewicht zwischen Proteasen ... und Antiproteasen … mit konsekutiver Zerstörung der terminalen Atemwege und Alveolarsepten. Folge ist ein Lungenemphysem.“ (H. Greten; a.a.O., S. 428 f.)
Immer mehr Menschen leiden an psychischen und psychosomatischen Störungen:
„Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) hat ... ermittelt, dass die Zahl der Krankschreibungen wegen der Zusatzkategorie Burn-out (Z73 im ICD-10-GM) seit 2004 um fast 700 Prozent gestiegen ist. In 85 Prozent dieser Fälle diagnostizierte der Arzt zusätzlich eine psychische oder körperliche Erkrankung.“ (Deutsches Ärzteblatt 2012; 109(24))
Woher die kommen, ist der Medizin nicht nur beim Burn-out – da steckt die Sache schon in der Bezeichnung – durchaus bekannt:
„So führten chronische Überforderung und Stress ... zu psychischen und psychosomatischen Krankheiten wie Depressionen, Angststörungen, Rückenschmerzen, Tinnitus oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen.“ (Deutsches Ärzteblatt; a.a.O) 3)
Psychische Belastungen, Überforderung, Angst, Stress, Aufregung, warum auch immer ungelöste Konflikte können Menschen fertigmachen, auch ohne körperliche Schäden anzurichten: Sie werden unfähig, mit sich und der Welt etwas Brauchbares anzufangen – womöglich, in dieser Gesellschaft der GAU, arbeitsunfähig. Ganz häufig wirkt sich das „gestörte“ Seelenleben aber auch auf ihre Physis aus: Belastungen und die andauernden Versuche, damit fertigzuwerden, führen zu einer Aktivierung des vegetativen Nervensystems, was in die Regulation der meisten Organe eingreift. Ist das von Dauer und können die physiologischen Folgen vom Organismus nicht kompensiert werden, schlägt sich die chronische Aktivierung des vegetativen Nervensystems in unterschiedlichen Krankheiten nieder, wobei sowohl ein bereits bestehender Organdefekt angeheizt werden als auch eine völlig eigenständige Krankheit entstehen kann.
„Zu diesen Krankheiten gehören: Koronare Herzkrankheiten und ihre Folgeerkrankungen, essenzielle Hypertonie, Asthma bronchiale, Ulcus ventriculi und duodeni, chronisch entzündliche Darmerkrankungen (Colitis ulcerosa, Morbus Crohn), rheumatische Arthritis, Fybromyalgiesyndrom, atopisches Ekzem und zahlreiche andere Erkrankungen.“ (P.L. Janssen; Leitfaden psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 2012, S. 39)
Dabei ist an den physiologischen Folgen natürlich gar nicht zu unterscheiden, ob der Mensch an Einbildungen leidet oder an wirklichen Belastungen, deren Grund und Gegenstand er nicht ausräumen kann; sei es, weil er tatsächlich gar nicht Herr darüber ist, sei es, weil er seine Unzufriedenheit von vornherein gar nicht auf die Dinge und Verhältnisse richtet, die ihn stören, sondern gegen sich selbst. Die Medizin diagnostiziert hier „durch chronischen Stress bedingte Dysbalance“:
„In psychopathologischer Perspektive sind mit Organdestruktion einhergehende körperliche Erkrankungen, bei denen psychosoziale Faktoren mit verursachend sind, keine einheitliche Gruppe. Allerdings gibt es eine Reihe klinischer und empirischer Evidenzen für die Annahme, dass krankheitsübergreifend eine durch chronischen Stress bedingte Dysbalance in der vegetativen Organinnervation besteht, begleitet von entsprechenden neuroendokrinologischen und neuroimmunologischen Abweichungen...“ (P.L. Janssen; a.a.O., S. 39)
Trotzt der Mensch den beliebtesten Todesursachen, indem er mit den modernen Volksseuchen jahrzehntelang überlebt, hat er im Alter beste Chancen, an einer der vielfältigen Formen von Demenz zu erkranken:
„Risikofaktoren für eine Demenz: Alter, weibliches Geschlecht, niedriges Körpergewicht bei weiblichen Patienten, Demenz bei Verwandten, vorangegangene Kopfverletzung, niedriges Bildungsniveau, Demenz im Anfangsstadium, bestimmte neurologische oder genetisch bedingte Erkrankungen, vorangegangener Schlaganfall, riskanter Alkoholkonsum und Alkoholabhängigkeit, vaskuläres Risikoprofil (z.B. arterielle Hypertonie, Hypercholesterinämie, Nikotinabusus, Diabetes mellitus etc.).“ (DEGAM-Leitlinie Demenz; 2008, S. 21)
Die professionelle Abstraktionsleistung, die das Disparateste unter dem Obertitel „Risikofaktoren“ versammelt, einstweilen dahingestellt (dazu später): Auch Demenz, so viel geht aus den „Leitlinien“ allemal hervor, ist weniger die Folge natürlicher Alterungsprozesse, vielmehr in der Regel die Auswirkung von Abstumpfung und Belastungen, die bis ins hohe Rentenalter ausgehalten werden, gegebenenfalls einschließlich schon manifest gewordener ruinöser Konsequenzen.
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Alle genannten Leistungen und Belastungen des Organismus und der Psyche machen sich in aller Regel nicht als akute Überanstrengung geltend, sondern zeigen erst nach längerer Zeit ihre Wirkung – pathologische Wirkungen, die dann, verselbständigt gegen ihren Entstehungsgrund, Folgeschäden verursachen. Zu eigentlichen Krankheiten werden die allmählich auftretenden Beschwerden dadurch, dass man die Belastungen aushält und mit ihnen umgeht; und zwar so lange, bis sie nicht mehr ausheilbar sind.
Den chronischen Erkrankungen, an denen in dieser modernen Gesellschaft so stereotyp laboriert wird, ist also eines wesentlich: Sie sind die Folgen von Belastungen, die darüber zu Krankheiten werden, dass die Betroffenen sich dauerhaft abverlangen, sie auszuhalten.
2. Moderne Krankheitsursache: die Klassengesellschaft
Belastungen, Strategien des Aushaltens und erst recht die daraus resultierenden