Gesundheit – ein Gut und sein Preis. Sabine Predehl
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Krankheitsursache Freizeit
Angeblich ziehen sich moderne Menschen den Großteil ihrer Malaisen überhaupt ganz unabhängig von ihrem Berufsleben durch ihre privaten Vergnügungen zu. Wenn es denn so wäre, dass die Leute ihre Gesundheit für ihren Genuss verwendeten, dann hätten sie sich wenigstens einmal selber den Zweck gesetzt, für den sie sich verschleißen; wenn sie das lohnend fänden, dann hätte sich wenigstens dieses Stück ihres körperlichen Ruins einmal für sie gelohnt und nicht bloß für ihre Benutzer.
Allerdings ist es so um die Freizeit der meisten Leute nicht bestellt. Erst einmal kommt nach der Arbeit die Befriedigung einer Anzahl notwendiger Bedürfnisse. Dazu würde eigentlich auch, medizinisch gesehen, ein langes Ausruhen und so viel an kompensatorischer Betätigung gehören, dass die strapazierten Organe eine Chance zur Erholung bekämen. Bis die Selbstheilungskräfte des Organismus ihr Werk verrichtet haben, wäre die Freizeit aber schon wieder vorbei und an Lebensgenuss noch gar nichts passiert. Die Notwendigkeiten der Erholung widersprechen der Freiheit, sich sein Leben nach Geschmack einzurichten.
Das fängt in der Regel schon damit an, dass für diejenigen, die einen rentablen Arbeitsplatz ausfüllen müssen, die Sache mit dem „Abschalten“ – auch nach der Erledigung der notwendigen Verrichtungen des Alltagslebens nach einem erfüllten Arbeitstag – gar nicht so einfach ist. Weil nämlich nicht nur die räumliche und zeitliche, sondern auch die geistige Distanz zur Arbeit geschaffen werden muss, so dass Abschalten – einerseits das bloß abstrakt-negative Gegenbild zur Arbeit, andererseits die Voraussetzung für alles Erholen von ihr – oft eine eigene Bemühung wird. Zum „Runterkommen“ vom Alltagsstress hat jeder so seine mehr oder weniger taugliche Strategie entwickelt. Der jährliche Suchtbericht der Nation gibt Auskunft darüber: Die einen greifen eher zum Alkohol, die andern zur Beruhigungspille, eventuell ergänzt um „Upper“-Pillen, die die (Nach-)Wirkungen der „Downer“ am nächsten Morgen wieder ausgleichen. Was an Genussmitteln – neben denen mit eindeutigem Suchtpotential – bleibt, ist auch nicht viel gesünder. Denn Essen und Trinken ist das, was die Nahrungsmittelindustrie zur Verfügung stellt – und was der Mensch sich leisten kann. Die moderne Arbeiterklasse leidet daher nicht mehr Hunger, sie leidet an Adipositas. Der Mensch sollte sich daher mehr bewegen – „Ausgleichssport“ heißt der durchgängige Ratschlag der Experten. Bloß: dem Alltag das nötige Maß an „Bewegung“ abzuringen, ist im Normalfall eine eigene Anstrengung. Die sollte man außerdem, nach demselben Expertenratschlag, auch nicht übertreiben. Dann droht nämlich unter Umständen „Sportsucht“, eventuell sogar in Kombination mit „Magersucht“...
Das alles lässt sich natürlich auch völlig anders auffassen. Nämlich so, dass sich der moderne Mensch um seiner frei gewählten Vergnügung willen, aus lauter Faulheit und Genusssucht oder aus lauter Ehrgeiz und Eitelkeit, selbst ruiniert. So jedenfalls sieht es aus von dem Standpunkt, dass der Mensch erstens fürs Arbeiten und zweitens für die kompensatorischen Notwendigkeiten da ist, die sich daraus ergeben.
Das Bemühen, sich das Leben schön zu machen, ist im Übrigen noch vor allen anderen Entscheidungen eine Geldfrage. Für die Masse der Lohn- und Gehaltsempfänger ist das eine – je nach Familienverhältnissen – sehr eng gezogene Schranke, weil erst einmal das überhaupt Notwendige zu finanzieren ist. Die Freizeit des größten Teils dieser Leute geht daher dafür drauf, sich finanziell ein bisschen Luft zu verschaffen, was schon wieder auf Arbeit statt Erholung hinausläuft; sei es der in den letzten Jahren zunehmend in Mode gekommene Zweit- und sonstige Nebenjob, sei es die private Arbeit am eigenen Haus, das dereinst die Mietausgaben spart und vielleicht ein freieres Leben ermöglicht – wenn man überhaupt noch dazu kommt. So arbeitet sich der Mensch an dem Widerspruch seiner Einkommensquelle ab, was gänzlich in seine Privatsphäre fällt.
Dabei wird ein Familienleben abgewickelt, das erst einmal unter lauter Kompensationsansprüchen steht; logischerweise unter solchen, die es gar nicht erfüllen kann. Entgangene Lebenschancen werden nicht dadurch welche, dass man sie mit dem oder der Liebsten und Kindern teilt. Deswegen wird der Genuss des familiären Beisammenseins so stereotyp zum Betätigungsfeld und auch zum Ausgangspunkt weiterer psychovegetativer Syndrome. Der größte Stabilisierungsfaktor der Konkurrenzgesellschaft erscheint nicht umsonst als zusätzlicher „Stressfaktor“. Hausärzte und Psychiater besichtigen die Folgen.
Die große Freiheit nach einem erfüllten Arbeitsleben, das seine körperlichen und geistigen Folgen hinterlassen hat, ist für die meisten auch alles andere als ein reines Vergnügen. Jedenfalls nehmen die Berichte über das „Problem der Abhängigkeitserkrankungen des Alters“ zu – sei es von der „legalen Droge“ Alkohol oder von Schlaf- und Beruhigungspillen, ohne die die älteren, ausgemusterten Mitglieder unserer Leistungsgesellschaft offensichtlich nicht ihre Ruhe finden. Die Verschreibungszahlen solcher Medikamente sind beeindruckend – die Übergänge von „Schlafmittel-Abusus“ und „Medikamenten-Abhängigkeit“ zur ebenfalls beeindruckend zunehmenden Diagnose „Altersdemenz“ sind fließend.
Das Reich der Freiheit fängt im Kapitalismus erst da an, wo Geld keine Rolle spielt. Die Hauptrolle spielen dafür Karrieresorgen der höheren Art verbunden mit eingebildeten und wirklichen gesellschaftlichen Repräsentationspflichten im Privatleben. Die entsprechenden „Stresssymptome“ bestätigen den Volksglauben, dass „Geld allein auch nicht glücklich macht“. Moralisten mögen das als ausgleichende Gerechtigkeit verbuchen.
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Die modernen „Epidemien“ sind Folgen der modernen Konkurrenzgesellschaft, lassen sogar ziemlich tief blicken, was den ökonomischen Inhalt und bestimmenden Grund des allgemein herrschenden Konkurrenz-„Verhaltens“ angeht: Über die gemeinsamen wie die jeweils besonderen Existenzbedingungen der unterschiedlichen sozialen Charaktere dieser Gesellschaft, über ihre Lebenschancen im allgemeinen und im buchstäblichen medizinischen Sinn entscheidet maßgeblich der unentrinnbare Imperativ des Geldverdienens in Abhängigkeit vom Kapitalwachstum als der alles entscheidenden Bedingung dafür, also des wirklich herrschenden Zwecks – jedenfalls solange die zuständigen Staatsgewalten dem zivilen Leben ihrer Völker seinen Lauf lassen und nicht mit größeren Gewaltaktionen und den entsprechenden zivilisierten Todesarten in die Alterspyramide auch ihrer eigenen Bevölkerung eingreifen.
Dieser offenkundige Zusammenhang lässt sich natürlich ganz unkritisch, weltbejahend auffassen. Es braucht dazu nur den Vergleich mit den Krankheits- und Todesursachen, die in den sogenannten Industrieländern nicht die bestimmenden sind. Dieser Vergleich lässt sich zeitlich nach rückwärts anstellen, mit den überwundenen Epochen des mörderischen Kindbettfiebers oder, noch weiter zurück, der Pestepidemien; ebenso in der Gegenwart mit den Regionen, für die die Bezeichnung „Dritte Welt“ außer Mode gekommen ist, die „Heimsuchung“ durch Hungerkatastrophen und ganz unmoderne – „klassische“ – Seuchen aber gar nicht. Es ist ja auch nicht zu bestreiten: Zwar sind die Bewohner der „entwickelten“ Welt auch für Noro- und Grippe-Viren anfällig, schon gleich, wenn sie altersgerecht, schichtspezifisch und ortsüblich durch die Belastungen ihres Alltags schon „mitgenommen“ sind; ihren alltäglichen Beschäftigungen gehen sie aber unter deutlich „gesünderen“ Bedingungen nach als die Eingeborenen der vielen „failed“ und „failing states“, nämlich in hygienisch besseren Verhältnissen und unter flächendeckender medizinischer Betreuung. Dieser wohltuende Unterschied macht aber erstens nur umso klarer, dass es die speziellen Lebensbedingungen in ihrer Abteilung der globalen Marktwirtschaft und ihre „entwickelten“ Konkurrenzanstrengungen sind, was ihnen gesundheitlich zu schaffen macht. Zweitens enthält der medizinische Fortschritt, der Teile der modernen Menschheit von alten Übeln befreit hat, schon einen ersten Hinweis darauf, was dieser Fortschritt nicht nur bewirkt, sondern wofür er gut ist: Gelitten und gestorben wird eben mehrheitlich an Belastungen, die mit der Ertragskraft des Systems der kapitalistischen Konkurrenz auf dessen jeweils erreichtem Stand notwendig verbunden, also fürs Kapitalwachstum produktiv sind. Drittens schließlich sind die