Gesang der Lerchen. Otto Sindram

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Gesang der Lerchen - Otto Sindram

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den behandelnden Arzt ablehnte; sie erkannte in ihm einen Konterrevolutionär.

      In der Oberschule in Neuruppin bekam Sophie Schwierigkeiten, sowohl mit ihren Mitschülern als auch mit dem zu erlernenden Stoff. Die Lehrer rieten Edda schließlich, ihre Tochter von der Schule zu nehmen. Edda tobte und beschimpfte die Pädagogen als Faschisten und Reaktionäre, folgte aber endlich doch dem Rat der Schule. Sophie übernahm allein die Hausarbeit. Edda machte Karriere in der Verwaltung und in der Politik. Sie wurde Kulturreferentin und Kreisrat für Volksbildung.

      Eines Abends übte Edda zu Hause ein Referat, das sie am nächsten Tag vor Kulturschaffenden halten sollte und das da lautete: Überlegungen über die Notwendigkeit der Beseitigung der feudalen Herrschaftsbauten in Brandenburg gemäß dem Befehl der Sowjetischen Militär-Administration SMA. Sophie musste Publikum spielen und zuhören. Und während sie sich bemühte, den Gedanken der Mutter zu folgen, ging es ihr plötzlich durch den Kopf: Sie beutet mich aus, meine Mutter macht Karriere auf meine Kosten. Am Tage darauf las Sophie im »Neuen Deutschland«, dass an der Berliner Universität eine Vorstudienabteilung für Arbeiter- und Bauernkinder mit abgeschlossener Berufsausbildung eröffnet worden sei. Vielleicht nehmen sie es ja nicht so genau, dachte sie, und schrieb ohne Wissen ihrer Mutter eine Bewerbung an die Universität Berlin.

      Christian Koschek, der Junge, hat heimlich in den Quarkbehälter gepinkelt. Ein Molkereiarbeiter hatte ihn einen Pollacken geschimpft. Als Christian danach, an der Abpackmaschine stehend, auf dem Laufband die in Wachspapier gewickelten, durch die Oberlichtsonne beschienenen und in reinem Weiß leuchtenden Quarkportionen mit der Aufschrift »Deutscher Qualitätsquark aus Potsdam« an sich vorbeiziehen sah, war er zufrieden. Er hatte sich dagegen zu wehren versucht, in dieser Molkerei zu arbeiten, und wollte weiter zur Schule gehen. Aber seine Mutter meinte, dass das Faulenzen ein Ende haben müsse, Krieg und Flucht seien nun vorbei, und mit seinen sechzehn Jahren sei er ohnehin zu alt für die Schule.

      Frau Koschek kannte den Vorsitzenden vom Antifaschistischen Ausschuss in Potsdam, einen hageren, mit einer schwermütigen Frau verheirateten Kommunisten. Sie erzählte ihm, die Nazis hätten ihren Mann, einen polnischen Offizier, in Katyn erschossen. Seitdem erfüllte der Genosse Vorsitzende ihr manchen Wunsch und versuchte sie zu trösten. Er hatte Christian die Arbeit in der Molkerei besorgt.Maria Koschek war dankbar und wusste es zu nutzen, dass ihr Sohn nun täglich mit Milch, Butter und Quark umging, das war kurz nach dem Krieg eine Goldquelle. Sie gab Christian allmorgendlich sein Frühstücksbrot in einer Blechdose mit und dazu eine mit Getreidekaffee gefüllte Flasche. Nur wenige Andeutungen waren nötig, und Christian wusste, was seine Mutter von ihm erwartete. So konnten sie dank glücklicher Umstände in einer Zeit des allgemeinen Hungerns gut leben; und weil Maria die Anteile der Molkereiprodukte, welche sie nicht zum Verzehr für ihren Sohn, für ihre alte Mutter und für sich benötigte, auf dem Schwarzmarkt eintauschte gegen vielerlei Kostbarkeiten und Güter des täglichen Lebens, fehlte es ihnen beinahe an nichts.

      Anders als erwartet und von der Vertreibung aus Krakau abgesehen, hat sich damit Marias im kalten Januar des Jahres 1945 auf der Flucht aus Polen getaner Schwur schon nach einem Jahr erfüllt. Damals hatten sie und ihr Sohn in der Nähe von Cottbus frierend und halbverhungert dabeigestanden und zugesehen, wie junge Männer in der Uniform des Reichsarbeitsdienstes mit Hacken und Schaufeln die hartgefrorene Erde aufbrachen, Marias wenige Monate alt gewordene, erfrorene Tochter aus dem Handwagen nahmen, in die kalte Erde legten und das kleine Grab zuschaufelten.

      Nie wieder frieren, nie wieder hungern, nie wieder fliehen, hatte sie sich da geschworen. Am Grabe ihres Säuglings, der ihr von der Liebe zu einem deutschen Besatzungsoffizier geblieben war, dem Elternhaus und ihrer Mutter in Potsdam schon näher als dem Anfang ihres Fluchtweges, fasste sie einen Entschluss.

      »Komm!«, sagte sie zu ihrem Sohn, nahm die Deichsel auf, wendete den Handwagen und fuhr zurück, der nahenden Front und dem Flüchtlingsstrom entgegen.

      Sie war entschlossen, sich mit den Siegenden zu arrangieren. Ihr Sohn folgte widerspruchslos. Er hoffte, in Krakau und in ihrem Haus mit dem großen Garten ein Leben führen zu können wie vor der Flucht, wollte Fußball spielen, schwimmen, Klavierunterricht nehmen und weiterhin das Lyzeum besuchen.

      Christian mochte die Menschen nicht, die wie er in der Molkerei ihrer Arbeit nachgingen. Ihre Witze auf Kosten Schwächerer waren ihm zuwider. Er wusste aber, dass er mit dem, was er neben dem Lohn in beinahe wertlosem Geld heimbrachte, das zu Hause geführte Leben erst ermöglichte und daher nicht einfach aufhören konnte. Die Zuteilungen auf den Lebensmittelkarten reichten nicht zum Leben. Über zwei Jahre ließ ihn diese Einsicht in der Molkerei ausharren, dann änderte sich die Situation in der Familie.

      Maria hatte gleich nach ihrer Vertreibung aus Polen im Hause von Sasse das Regiment übernommen. Frau von Sasse war ihrer Tochter dankbar dafür, denn seit dem Tode ihres Mannes fehlte ihr der Lebensmut. Zuerst entließ Maria das Hausmädchen Trude, denn in einer solchen Notzeit, so fand sie, bedeutete ein Esser weniger am Tisch schon viel. Danach bewarb sie sich erfolgreich um eine Küchenstelle in einem Hotel, das gleich nach dem Ende des Krieges für die Organisatoren der Potsdamer Konferenz eingerichtet worden war und seitdem von sowjetischen Offizieren bewohnt wurde. Dort lernte sie den Koch kennen, einen für diese Zeit ungewöhnlich fetten Mann um die fünfzig, der im Krieg seine Frau bei einem Bombenangriff verloren hatte. Er zog schon bald bei ihnen ein.

      Christian konnte den Eindringling nicht leiden. Als aber Maria ihre Arbeit in der Hotelküche wieder aufgeben musste, um ihre immer hinfälliger werdende alte Mutter pflegen zu können, sah er, dass dieser Mann seinen Plänen nützlich sein könnte. Ermutigt durch die Sicherheit, die der Koch der Familie brachte, traute Christian sich, laut über Alternativen zur Arbeit in der Molkerei nachzudenken. Von seiner Mutter konnte er wenig Hilfe erwarten, dazu war sie zu sehr auf das Heute fixiert und mit dem Überleben beschäftigt.

      »In Deutschland gehen nur Mädchen auf ein Lyzeum. Die Jungen gehen aufs Gymnasium, aber dazu müsstest du zu viel nachholen«, gab sie zu bedenken, »und mit Zwölfjährigen möchtest du doch sicher nicht zusammensitzen.«

      Hilfe bekam er von einer Seite, von der er es nicht erwartet hatte. Der Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung BGL schlug vor, ihn zur Vorstudienanstalt VA zu delegieren.

      »Im Neuen Deutschland habe ich gelesen, dass man an der Uni Berlin jetzt die Hochschulreife nachholen kann. Dort bekommst du ein Stipendium, und in zwei Jahren bist du fertig, kannst dann gleich weiterstudieren. Man sollte zwar eine abgeschlossene Berufsausbildung haben, aber die nehmen es bestimmt nicht so wörtlich.«

      Christian mochte auch diesen Mann nicht und vermutete, dass er ihn nur aus dem Betrieb haben wollte. Das aber war ihm gerade recht.

      »Schreib einen Lebenslauf in zweifacher Ausfertigung und eine Bewerbung. Ich schreibe eine Befürwortung. Bei meiner nächsten Fahrt nach Berlin nehme ich alles mit«, sagte der Gewerkschaftler.

      Christian schrieb und vergaß auch nicht den Mord an dem Vater in Katyn zu erwähnen − die offizielle Version, die inzwischen ja auch von der Mutter verbreitet wurde.

      »In Polen hast du immer gesagt, die Russen haben Papa erschossen«, hat er ihr vorgehalten, als sie nach der Vertreibung aus Polen in Potsdam allen von der Ermordung ihres Mannes durch die Nazis erzählte.

      »In Polen waren die Nationalsozialisten die Besatzungsmacht, hier sind es die Russen, und wir leben unter den Kommunisten. Es sagen hier doch alle, dass es die Nazis waren«, hat sie geantwortet.

      Wenige Tage nach dem Schreiben seiner Bewerbung bekam Christian Koschek eine Einladung zur Aufnahmeprüfung. So begann in der Vorstudienanstalt VA der Universität Berlin seine Karriere.

      Am

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