Der taube Himmel. Herbjørg Wassmo

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Der taube Himmel - Herbjørg Wassmo

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Tür und war ein Mensch. Nicht mehr und nicht weniger.

      »Du bist krank«, stellte Frau Karlsen ohne zu zögern fest. Die Stimme war trocken und sicher und ohne Misstrauen. Tora konnte aufatmen. Kaffeeduft und Frühstück. Frau Karlsen hatte den Kaffeekessel unten aus der Küche mitgebracht und ließ ihn auf einem dicken schwarz-rot karierten Topflappen neben dem Bett stehen. Sie hätte gerne mit Tora zusammen Kaffee getrunken, aber es war so viel zu tun.

      Außerdem hatte sie ein wenig Angst, sich anzustecken. Ja, Tora solle das nicht missverstehen, aber sie könne sich bei der Beerdigung doch nicht krank ins Bett legen.

      »Du hast ’nen Brief bekommen. Und ich hab auch die Zeitung mitgebracht«, sagte sie und las mit feierlicher Stimme vor: »Mordtragödie in Hollywood. Die vierzehnjährige Cheryl erstach den Gangster, der das Leben ihrer Mutter Lana Turner bedrohte! Fürchterlich, was die Jugend in Hollywood alles anstellt. Ja, sie ist nicht viel jünger als du. Du kannst froh sein, dass du in friedlicheren Verhältnissen lebst. Das muss ich schon sagen.«

      Am Rand des Tabletts lag Ingrids Brief.

      »Haste Fieber? Das kommt davon, dass du immer halbnackt gehst. Auch wenn man jung ist, kann man doch nicht nackt draußen rumlaufen. Es ist noch nicht Frühling, das weißte doch. Es ist eiskalt. Bleib nur ruhig liegen! Du gehst heut auch nicht in die Schule! Ich werd anrufen und sagen, dass du krank bist!«, erklärte sie schon in der Tür – und war weg.

      Ingrid lag in dem Brief. Tora konnte heute ihre Worte nicht ertragen.

      Mit jedem Mundvoll Brot und Käse wurde eine zarte Freude in ihr entfacht. Alles fügte sich zusammen, bis sie auf das Kissen sank und es wagte, sich selbst zu berühren.

      Im Laufe des Vormittags musste sie mehrmals aus dem Bett, weil ihre Brüste zu zerspringen drohten. Sie flossen über, so dass sie ein Handtuch auflegen musste. Einmal sah sie sich in dem Spiegel im Treppenhaus: eine unbeholfene, lächerliche Gestalt mit ausgestopfter Brust unter dem Nachthemd. Sie ähnelte Ole in Været, als er sich beim Schulabschluss in irgendeinem Sketch in dem großgeblümten Kleid seiner Mutter als Frau ausgestopft hatte. Sie wünschte sich so sehr, dass sie es nicht sei, die da stand, damit sie hätte lachen können. Lachen – viel und laut.

      Einmal war sie auf der Toilette und glaubte zu weinen. Ihre Brüste fühlten sich wund an. Sie versuchte, selbst zu saugen. Aber sie kam nicht dran. Sie drückte vorsichtig, damit die Milch herauslaufen sollte. Manchmal tauchte das Bild des kleinen Wesens vor ihr auf.

      Es war fast nicht auszuhalten.

      Bei Frau Karlsen unten klappten ab und zu die Türen. Sie stellten sicher Möbel um. Einmal rief sie zu ihr herauf, wie es gehe. Und Tora holte tief Luft und antwortete. Es gehe gut.

      Frau Karlsen kam nicht oft. Trotzdem war es eine Erleichterung, als Tora endlich das bekannte Geräusch vernahm, das ihr sagte, dass Frau Karlsen die Haustür abschloss und zu Bett ging.

      Da erst konnte Tora den Schlaf zu sich hereinlassen. Ihr Kopf war den ganzen Nachmittag eine schmerzende Eiterbeule gewesen. Sie hatte sich mit Mühe durch das Zimmer geschleppt, um alle Details nachzuprüfen, das Ganze mit den Augen zu ordnen – bis Frau Karlsen das nächste Mal erschien. Sie überlegte, ob sie nachts die Tür zuschließen sollte. Was würde Frau Karlsen sagen, wenn sie mit dem Frühstückstablett kam, ehe sie zur Bank ging? Aber sie musste. Ertrug es nicht, dass einfach jemand kam und sie sah. Die Decke könnte heruntergerutscht sein, so dass die Milchflecken von der überquellenden Brust sichtbar würden. Sie könnte ein Detail übersehen haben, das Frau Karlsen dann auffallen würde.

      Nachts nähten Randi und sie die Lappen des Bettüberwurfs zusammen, den Randi ihr geschenkt hatte. Alle Nähte waren aufgegangen. Randi tröstete sie und meinte, sie würden es schon wieder hinkriegen, aber Tora war so beschämt, dass sie Randi kaum anzusehen wagte. Und während sie so saßen, kam Onkel Simon mit einem dicken Seil, band sie zusammen und lachte gutmütig. Trotzdem stimmte etwas nicht, und als sie an sich hinuntersah, war das Tau aus gedrehter Haut gemacht und fühlte sich kalt und tot an den Armen an. Ein Netz von Blutadern wuchs aus dem Tau in ihren Kopf hinein. Aber die anderen merkten nichts. Schließlich konnte sie keinen einzigen Lappen mehr annähen. Die Arme waren wie gelähmt.

      Tora wurde wach und machte Licht.

      Sie schlug die Decke zur Seite und sah an sich hinunter.

      Es war vier Uhr.

      Sie zwang die Füße, bis zum Schrank zu gehen, und holte die Strickdecke heraus. Die Blutflecken waren wie getrocknete dunkle Schollen in dem vielen Rot. Als ob die Decke schon immer dazu bestimmt gewesen wäre, ein schmuddeliges Vogeljunges einzuhüllen. Tora wickelte sich in die Decke. Steckte die Füße in die Filzpantoffeln und setzte sich an den Tisch.

      Die Hand fuhr mechanisch zum Schalter und knipste die Schreibtischlampe an. Ein Buch nach dem anderen landete auf der Tischplatte.

      Dann fing sie an, englische Vokabeln zu lernen.

      Die Beerdigungsgäste brachten eine unwahrscheinliche Habgier mit ins Haus. Die laute, schrille Stimme von Frau Karlsen versuchte gleichsam, die Gäste daran zu hindern, ganz in ihre Seele einzudringen. Aber es nutzte wenig. Sie hatte bestimmt genauso viel Angst vor der Familie ihres Mannes wie Ingrid vor den Rechnungen, die mit der Post kamen. Tora ertappte sich dabei, dass ihr Frau Karlsen leidtat.

      Aber die Gäste wurden auch zu einer Bedrohung für Tora. Sie konnten irgendwann im oberen Flur und auf der Toilette auftauchen. Es war besonders eine Frau, die sich wie ein Gespenst bewegte. Lautlos. Das Knirschen ihrer Schritte hörte man erst, ein paar Minuten nachdem sie vorbeigegangen war. Sie öffnete die Schränke im Dachgeschoss, wenn Frau Karlsen zum Einkaufen fort war. Tora hörte, wie sie sich an den Türen bis zu ihrem Zimmer entlangdrückte. Dann wurde es still. Sie sah ihr leuchtendes, bösartiges Auge durch das Schlüsselloch bis zu ihrem Bett.

      Zum ersten Mal in ihrem Leben wurde ihr bewusst, wie wenig sie die Menschen mochte. Das Dachgeschoss hatte ihr allein gehört, außer wenn der Mann, der auf dem Frachtschiff fuhr, für ein oder zwei Tage nach Hause kam. Jetzt wurde es von raschelnden, schwatzenden, murmelnden Wesen in Beschlag genommen – die nur eine Sache im Auge hatten: den alten Karlsen unter die Erde zu bringen und herauszufinden, was er in den Schränken und Schubladen hinterlassen hatte. Die Trauergäste redeten, als ob sie vorhätten, auch Frau Karlsen zu beerdigen. Die Worte strömten durch die Wände direkt in Toras Ohr. Sie hatte das schreckliche Gefühl, dass sie einen Mord planten.

      Einer von den Männern redete ununterbrochen davon, dass das Haus keinen Pfifferling wert, das Grundstück aber eine Goldgrube sei. Er hatte eine Stimme wie das auflaufende Wasser unter dem Plumpsklo im Tausendheim. Die Stimme leckte feucht und schlabbernd durch die Wände, so dass Tora sie in ihrem Gesicht spürte, während sie mit geschlossenen Augen dalag. Sie war die ganze Zeit vor lauter Angst in Schweiß gebadet.

      Die Geräusche ihrer Körper auf den knackenden Matratzen, das Wasser, das in die Waschschüsseln lief, die Stimmen, die quer durch die Wände bis zu ihr drangen, worüber sie sich nicht im Klaren waren, das Schnarchen, Atmen – alles war ihr so widerlich, dass sie sich am liebsten bei Frau Karlsen ausgeweint hätte, als die abends heraufkam und fragte, wie es mit ihrer Grippe stehe.

      Aber natürlich sagte sie nichts davon. Sie verkündete stattdessen mit bleichem Lächeln, dass sie am nächsten Tag in die Schule gehen wolle. Ob Frau Karlsen ihr eine Entschuldigung schreiben könne?

      Tora segnete die spitzen Ellenbogen, die aus den schwarzen Kleiderärmeln herausstachen, und den schmalen Mund in dem gequälten Gesicht, als Frau Karlsen eine gehaltvolle Entschuldigung schrieb, die sie ausführlich mit Fieber und Halsschmerzen und Grippe begründete.

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