Der taube Himmel. Herbjørg Wassmo
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Читать онлайн книгу Der taube Himmel - Herbjørg Wassmo страница 5
Tora wechselte die Binde und lernte Geschichte.
Gegen Abend stiegen sie in Grüppchen die Treppe herauf, klapperten mit den Kofferdeckeln und raschelten in ihren Zimmern mit irgendwelchen Sachen. Sie war sich nicht ganz sicher, wie Frau Karlsen alles überstanden hatte. Sie hörte sie nicht, zunächst. Ein ungutes Gefühl beschlich Tora. Trugen sie nicht schwere Gegenstände durch die Halle? Schleppten sie nicht etwas hinter sich her? Überall war Durcheinander, und endlich hörte Tora Frau Karlsens erregte Stimme, die »gute Fahrt« wünschte. Dann fiel die Haustür ins Schloss, und die letzten Gäste verschwanden wie unwillige Krebse die Treppe hinunter und in ihren Autos. Kurz darauf hörte sie jemanden pfeifen, Love me tender, love me true. Es war Frau Karlsen.
Sie stand auf dem Gipfel des Veten und stürzte den Berg hinunter. Sie sah sich selbst in der Geröllhalde liegen. Nein, es war Almar! Ganz zerschlagen. Sie näherte sich ihm sehr schnell, und gerade als sie auf die großen grauen Steine stieß, sah sie das Vogeljunge. Jemand hatte es ausgegraben.
Sie kämpfte eine Weile mit der Decke, ehe sie ganz wach wurde. Dann ging sie zum Fenster, das nur einen Spaltbreit offen war, und öffnete es weit gegen die dunkle Nacht. Die Luft kam wie ein Schmerz auf sie zu. Eine Erinnerung an etwas, das sie früher empfunden hatte.
Allmählich wurde sie ruhig. Und die Wiese mit den Gänseblümchen wuchs vertrauensvoll bis hinauf an das Fensterbrett der ersten Etage. Sie nahm deutlich den Geruch wahr. Es tropfte gleichmäßig aus der Dachrinne.
Als sie sich wieder zum Raum umdrehte, sah sie direkt auf die Wand über dem Bett. Das abscheuliche Gemälde von dem Schiff im Sturm. Düstere Farben. Hässlich mit der polierten, verschönernden Gischt. Sie war augenblicklich beim Bett, nahm das Bild von der Wand, hielt es einen Moment vor dem Fenster hoch, bereit, es hinauszuwerfen. Sie stand ratlos vor dem offenen Fenster, das Gemälde über den Kopf haltend.
Es wurde ihr schwindlig vor Anstrengung. Die Arme sanken herunter.
Sie stellte das Bild mit der Vorderseite zur Wand draußen im Gang neben die Tür.
Sie hätte nach dem Vogeljungen in der Geröllhalde sehen sollen, aber es ging nicht. Denn da hätte sie alle Blumen zertreten müssen. Dass jemand das kleine Grab gefunden hatte, war wohl unmöglich. Der Löffel hatte gründliche Arbeit geleistet. Jedes Mal, wenn sie auf den Löffel schaute, der in der Schublade lag, war sie ihrer Sache sicher. Das Vogeljunge war gut verborgen. Niemand sollte es schänden können. Jedes Mal, wenn sie mit hoher Geschwindigkeit durch den Himmel fiel und das offene kleine Grab sah, gelang es ihr, sich zu wecken, ehe es zu spät war.
Der Himmel war überall so offen. Das war ihr unangenehm. Die Luft war so klar. Alles war durchsichtig und lastete wie ein Druck auf ihr. Jede Nacht jagte sie über den Himmel und hinunter auf die Geröllhalde. Jede Nacht endete sie vor dem offenen Fenster. Der Abfluss war so groß. Während sie dahinraste, spürte sie den Wind auf der Haut. Im Gesicht. War leer wie ein flatterndes Kopfkissen auf der Leine im Wind.
Sie stand in Frau Karlsens Badewanne. Das Wasser strömte an ihr herunter. Warmes Wasser. Ihr schwindelte in endlosen Augenblicken.
Langsam seifte sie sich ein. Die Haare. Den Körper. Spülte sich ab und seifte sich erneut ein. Es war schon lange her, dass sie etwas als so wohltuend empfunden hatte. Man konnte sich darin ausruhen. Die Muskeln und die Haut bekamen wieder Leben. Unter dem Wasserstrahl. Sie wärmte sich. Erfrischte sich. Sie war sie selbst, so wie sie es vorher nie gewesen war.
Ein paarmal spürte sie den Boden unter sich weichen, wenn sie in das Loch sah, durch welches das Seifenwasser mächtig schäumend und ruckweise in den Abfluss gesaugt wurde. Rosa. Sie konnte sich nicht an das viele Blut gewöhnen. Einmal musste doch Schluss sein. Sie sollte sich doch wohl nicht zu Tode bluten.
Seifengeruch. Sie spülte die Haare, die sich spröde und sauber anfühlten, wenn sie mit den Fingern durchfuhr. Der Dampf stand wie eine Wolke vor dem kleinen halboffenen Fenster hoch oben an der Wand. Der Plastikvorhang mit seinen grellen violetten Blumen hing steif herunter. Alles war fremd, aber schön. Sie hatte das Gefühl, es vorher nie gesehen zu haben.
Sie trocknete sich sorgfältig ab. Zog frische Wäsche an. Ließ das weite Hemd über den Jeans hängen. Hatte eine richtige Binde im Schritt, als ob sie ganz normal ihre Tage hätte.
Sie riss das Fenster wegen des Dampfes weit auf, wagte aber nicht, die Tür zur Küche zu öffnen. Frau Karlsen war nur einkaufen gegangen, sie konnte jederzeit zurückkommen. Tora hatte die Erlaubnis zu baden. Trotzdem durfte Frau Karlsen sie nicht im Bad sehen. Es half auch nichts, dass sie angezogen war. Die Spuren könnten sie verraten. Unerwartet. Katastrophal. Nur ein winzig kleines Detail.
Das Mädchen von der Insel spürte die Blicke im Nacken – auf dem Schulhof, in den Fluren oder auf der Straße. Sie war nie gesprächig gewesen. Aber jetzt schien sie die Sprache vollkommen verloren zu haben. Nur wenn sie die Aufgaben abgefragt wurde, brachte sie eine Art an sich selbst gerichtetes Flüstern zustande. Eine Stimme, die so wenig benutzt wurde, dass sie immer von neuem versuchen musste, einen Klang zu finden. Die Sätze kamen direkt aus dem Buch, durch das Mädchen hindurch und in den Raum. Es war, als ob ein Tonbandgerät in ihrem Magen säße. Aber im Übrigen konnte man von ihr nichts hören.
Vor allem Anne versuchte, Kontakt zu ihr zu bekommen. Ob sie ins Kino gehen wollten? Ins Café? Tora hatte tausend Entschuldigungen. Man kam nicht an sie heran. Seit sie damals im Herbst ohnmächtig geworden war, war in den Augen der anderen etwas Geheimnisvolles an ihr hängen geblieben. Sie sprach nie über sich selbst. Die anderen wussten kaum, wo sie wohnte. Sie war glatt wie ein Aal. Saß an ihrem Tisch. Ging in den Pausen hinaus. Erhob sich auf Kommando wie ein Soldat und leierte ihre Aufgaben herunter. Schrieb, was ihr diktiert wurde. Alles gleichermaßen ausdruckslos, wie ein Roboter.
4
Ingrid wartete auf Post von Tora. Schließlich wusste sie sich keinen anderen Rat mehr, als nach Bekkejordet zu gehen und Simon und Rakel zu fragen, ob sie das Telefon benutzen dürfe.
Nach Worten suchend, erklärte sie, dass sie Ingrid Toste sei. Toras Mutter. Ob Tora krank sei, weil sie nicht schreibe.
Frau Karlsen zeigte freundliche Teilnahme. Ja, Tora habe eine unangenehme Grippe gehabt und im Bett gelegen, aber das sei schon eine Woche her. Die Schulaufgaben hätten sie wohl am Schreiben gehindert. Sie sei immer zu Hause, immer ruhig und ordentlich. Ja, die beste Untermieterin, die sie je gehabt habe. Es sei schön, einen Menschen im Haus zu haben, wenn man Witwe geworden sei. Sie habe ja viele Jahre allein gelebt, natürlich, weil der Mann krank und bettlägerig und im Altersheim gewesen sei. Und das sei gutgegangen. Aber es sei doch etwas anderes, zu wissen, dass man allein war. Ingrid machte vorsichtig, aber entschieden Schluss und legte auf.
»Was hat sie gesagt?«, fragte Rakel und sah die Schwester fragend an.
»Dass sie Witwe geworden ist.«
»Witwe?«
»Ja, Frau Karlsen. Aber die Tora war nicht da. Sie lernt sicher so viel, dass sie keine Zeit zum Schreiben hat … Sie hat die Grippe gehabt …«
»Aber hat sie dir nicht gesagt, wann die Tora nach Haus kommt?«
»Ich hab vergessen zu fragen. Sie hat so viel geredet. Ich hab direkt Kopfschmerzen davon.«
Rakel lachte und schenkte noch mehr Kaffee ein. »Ja, ja, nun kommt sie Ostern wohl, du wirst schon sehn.«
Ingrid