Der taube Himmel. Herbjørg Wassmo

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Der taube Himmel - Herbjørg Wassmo

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sollte sehen, dass es eine Entschädigung für Schmerzen war.

      Aber Simon wurde ganz weich bei ihrem Anblick. Er fuhr allein über den Fjord zurück und spürte immer noch ihren Duft. Mitten durch die salzige Gischt. Er drehte den Motor voll auf und stellte fest, dass er gut lief.

      Der Bus fuhr um Millionen von Kurven und hielt ununterbrochen, so schien es Rakel. Sie hatte sich bereits überlegt, wie sie sich verhalten sollte, wenn sie nach Breiland kam. Sie wollte Frau Karlsen anrufen und nach Tora fragen. Dann wollte sie zu dem Haus gehen. Wenn niemand aufmachte, würde sie sich ein Hotelzimmer nehmen und das Weitere überdenken.

      Es war grau in Breiland. Rakel hatte sich ein für alle Mal eine Meinung darüber gebildet. Seit sie erfahren hatte, dass sie zu Tests und Untersuchungen nach Breiland musste. Das war schon lange her. Trotzdem war der Grauton da. Ein für alle Mal. Sie brachte es nicht über sich, diesen Eindruck zu revidieren.

      Der Ton im Telefon war auch grau. Es klingelte in einem Raum, den sie nicht sehen konnte. Niemand hob ab. Sie hatte es im Voraus gewusst. Sie knöpfte den Mantel zu, nahm die Reisetasche vom Boden auf und dankte der Verkäuferin dafür, dass sie das Telefon hatte benutzen dürfen.

      Ging geradewegs hinaus in den bleigrauen Tag.

      Das Haus fand sie leicht. Wusste ungefähr, wo es war. Es brannte Licht im Flur und in der ersten Etage. Ein gelber, ängstlicher Schein, der über alten Schnee floss. Da oben waren die Jalousien heruntergezogen. Ein Schild über der Messingklingel. Herrschaftlich. Trotz aller Kümmernisse konnte Rakel sich ein solches Schild in Bekkejordet vorstellen. An der Haustür: Simon und Rakel Bekkejordet. Nur um zu irritieren und zu verwirren. Und weil es ihr gefiel. Und weil es einfacher so wäre. Dazu dann die Klingel. Sie musste beinahe lachen.

      Niemand öffnete. Sie zog einen Handschuh aus und benutzte den nackten Zeigefinger. Als ob das helfen würde. Ein Ritual, um die Menschen herbeizuzaubern. Sie spürte, wie das Geräusch sich von ihrer Fingerkuppe bis in das Haus fortpflanzte. Bis zu dem Zimmer, in dem Tora war. Ein Ruf, eine Ankündigung, dass sie, Rakel, gekommen war. Aber das Haus antwortete mit beleidigter Stille. Verwunschen und verschlossen.

      Eine Bewegung da oben? Sie war sich nicht sicher. Sie klopfte laut an die Tür. Tat kund, dass sie sich nicht ohne weiteres zufriedengeben würde. Aber es geschah nichts. Sie überlegte, dass Tora vielleicht eine gewisse Zeit brauchte, um sich vorzubereiten. Nahm einen Bleistift aus der Handtasche und riss eine Seite aus dem Notizbuch heraus. Dann schrieb sie, dass sie da gewesen sei und wiederkommen werde. Schob den Zettel in den Türspalt und wandte sich zum Gehen.

      Als sie ein letztes Mal hinaufsah, bemerkte sie einen Schatten am Fenster. Die Jalousie schnellte hoch. Sie glaubte, den scharfen Knall zu hören.

      Tora stand wie ein gekreuzigter Schatten da. Die Sprossen im Fenster waren echt genug. Ein Kreuz. Rakel hob die Hand. Versuchte zu lächeln. Das Fenster wurde langsam nach außen aufgestoßen. Toras rotes Haar erschien in der Fensteröffnung. Rakel wusste nicht, was sie erwartet hatte.

      Vielleicht ein Lächeln? Eine Entschuldigung? Ein kleines Hallo?

      Aber nichts von alledem. Es war, als ob Tora sie nie gesehen hätte. Als ob sie einen zufälligen Hausierer betrachtete und wünschte, dass er seinen Spruch aufsagte und dann wieder ging.

      »Hallo! Ich hab schon geglaubt, dass niemand zu Haus ist. Kann ich raufkommen?«

      Es war immer noch kein Laut aus dem offenen Fenster zu vernehmen.

      Der Kopf verschwand, das Fenster wurde geschlossen. Einen Augenblick stand Rakel mit einer verwirrenden Lawine von Gedanken da. Einer davon war, dass Tora ihr wohl nicht öffnen würde. Aber kurz darauf hörte sie von drinnen Schritte, und der Schlüssel wurde umgedreht.

      Der Mensch in der Tür war Tora. Und war nicht Tora. Rakel blieb auf der Treppe stehen. Ihre Augen fuhren blitzartig über das junge Mädchen. Dann blickte sie verlegen zur Seite. Hatte das Gefühl, durch ein Schlüsselloch geschaut zu haben.

      Das dichte Haar hing in Strähnen über die Schultern. Das Gesicht wirkte verlebt und war entsetzlich bleich. Die Augen sahen sie an, ohne zu sehen. Derselbe graue Pullover, den sie schon Weihnachten angehabt hatte. Aber der Babyspeck, die runden Formen, die Frische – die waren verschwunden. Sie konnte diesen Menschen nur mit abgrundtiefem Unglück in Verbindung bringen.

      Aber natürlich. Dieser Mensch hatte den Brief an Ingrid geschrieben.

      Rakel wartete nicht länger, dass Tora etwas sagen würde, sie folgte ihr einfach die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Blieb an der Tür stehen. Schweigend. Betrachtete eingehend die triste, schwere Tapete, das schmale, altmodische Bett, die dunklen Vorhänge, das Licht der Straßenlaternen, das frech durch die hohen, kahlen Fenster hereinbrach. Den Fleck auf der Wand, wo einmal ein Bild gehangen hatte, die Wachstuchdecke mit den grellen Blumen. Die großen, alten Sessel und die Plüschdecke auf dem runden Tisch. Alles hatte bessere Tage gesehen, lange vor Toras Geburt.

      Rakel hängte ihren Mantel in den Gang, schlüpfte aus den Stiefeln, rieb sich die Hände, während sie zum Ofen ging.

      »Es ist schön warm hier«, sagte sie und verschwand fast in einem der Sessel. Tora setzte sich auf die äußerste Kante des Schreibtischstuhls.

      Auf dem Schreibtisch lagen Bücher. Tora hatte sicher gerade für die Schule gearbeitet. Auf dem Bett lagen verstreut zehn, zwölf Bücher mit Bibliothekseinband. Sonst war alles blitzsauber. Aufgeräumt bis ins kleinste Detail.

      »Du lernst und lernst«, sagte Rakel lächelnd und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, um sie ein wenig in Ordnung zu bringen.

      Tora nickte.

      »Biste allein hier?«, fragte Rakel vorsichtig.

      »Ja. Frau Karlsen ist über Ostern bei Verwandten.«

      Endlich konnte man ihre Stimme hören. Ganz konkret.

      »Und du? Du willst nich nach Haus, hab ich gehört?«

      »Hat die Mama dich geschickt?«

      »Nein, keineswegs! Ich hab in Breiland was zu erledigen. Ich hab mich selbst geschickt. Aber ich musste auch nach dir sehn.«

      Plötzlich fasste Rakel einen Entschluss. Ehrlich sein. Wenn sie durch diese Schale durchdringen wollte.

      »Aber ich hab den Brief gesehn, den du nach Haus geschrieben hast. Du gehst also nicht auf irgendeine Tour – eine Hüttentour, nicht wahr?«

      Tora starrte Rakel an. Das Gesicht, der Körper, aber vor allem die Augen spiegelten genau den Ausdruck wider, den Rakel bei Tieren gesehen hatte, wenn sie geschlachtet werden sollten. Sie schluckte.

      »Was ist eigentlich los, Tora?«

      »Nichts! Ich kann nur nicht. Es ist teuer und … Möchtste Kaffee?«

      Das Mädchen schien aus einer Art Trance zu erwachen. Sie erhob sich jäh und ging ein paarmal ziellos im Zimmer umher. Ein nervöser, geschäftiger Tanz. Auf der Suche nach dem kleinen Kaffeekessel, der auf dem Tisch mit den Schulbüchern stand. Rakel deutete schließlich darauf. Zwei rote Flecken erschienen auf Toras Wangen. Rakel sah, wie der Schweiß auf Stirn und Oberlippe ausbrach. Sie hielt sich zurück, damit Tora sich beruhigte. Erinnerte sich plötzlich an die Episode mit Ingrid, als sie ihr geradeheraus gesagt hatte, dass sie Henrik verlassen solle. Man sollte den Menschen nicht so viel sagen. Es wurde schnell zu viel für jemanden,

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