Der taube Himmel. Herbjørg Wassmo

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Der taube Himmel - Herbjørg Wassmo

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hast es nicht gut, Ingrid. Du hast zu viel Verantwortung, zu viel Schinderei. Du solltest einen Mann haben, der ’n bisschen auf dich aufpasst, nicht einen, der kritisiert, dass die Tora auf die Schule geht, und der dir das Leben sauer macht.«

      »Der Henrik hat’s auch nicht so leicht …«

      Rakel hat plötzlich das ekelhafte Gefühl, sich zu langweilen. Sie weiß, dass sie ein paar tröstende Worte finden müsste. Ablenken davon, dass Tora weit weg und Henrik ewig schlechter Laune ist – bis irgendetwas Ingrids Stimmung wieder aufhellt. Aber sie steht einfach da und langweilt sich. Hat das Gefühl, dass sie mit Ingrid nicht wie mit einer Ebenbürtigen reden kann. Weiß nicht, warum sie sich doppelt so alt fühlt, obwohl Ingrid älter ist und viel, viel mehr erlebt hat. Sie hat immer mit Erstaunen festgestellt, dass Ingrid nie etwas aus all dem lernt, durch das sie hindurchmuss. Ingrid wird nur immer tüchtiger bei ihrer Arbeit. Hat keinen Drang zur Auflehnung, keinen Trotz, schluckt Hass und Groll herunter – und lässt sich immer wieder schlagen.

      Ingrid raffte den alten Mantel um sich, stand auf und war bei der Tür. Sie sah Rakel mit einem seltsamen Blick an. »Nein, ich muss jetzt machen, dass ich wegkomm, es ist schon spät …«

      Ihre Stimme klang wie gewöhnlich.

      Rakel blieb stehen.

      Sie sah, wie Ingrid die Gartentür öffnete und wieder schloss, ohne ein Auge auf das Haus oder das Küchenfenster zu werfen. Sah sie die Hügel hinuntergehen. Langsam. Stetig. Alles war gesagt.

      Nichts war gesagt. Nichts war entschieden.

      Kurz bevor Ingrid in dem Wäldchen verschwand, kam Rakel zu sich. Sie riss die Tür zum Windfang auf und ergriff das erste Beste, was sie da draußen fand. Simons Stalljacke. Schlüpfte in ein Paar abgeschnittene Stiefel und stürmte taumelnd auf dem matschigen Weg Ingrid nach. Erreichte sie schnell. Sprang sie von hinten an und hielt sie fest.

      »Ich bin einfach schrecklich, Ingrid!«

      Ingrid fuhr sich mit steifen Händen über das Gesicht. »Du willst doch nur in allem Ordnung haben. Ordnung …«

      Rakel begleitete Ingrid die Hügel hinunter bis zu den ersten Häusern. Da kehrte sie um, weil sie nur die Stalljacke und die abgeschnittenen Stiefel anhatte. Sie zeigte an sich hinunter und lachte. Sie lachten beide ein wenig.

      »Ich versuch, mehr über Tora zu erfahren, dann komm ich zu dir runter.«

      Ingrid nickte. »Ich bin’s ja nur, die sich aufregt. Du hast ja recht. Was soll denn hier auf der Insel aus Tora werden? Ich bin auch mal von hier geflohn … Danach war’s zu spät. Es ist, als ob alles mich erstickt hätte – und es mir ermöglichte zu leben, ohne zu atmen.«

      Sie hob die Hand zum Gruß. Eine schwerelose Bewegung. Ein heimliches Verstehen. Wie damals, als sie junge Mädchen gewesen waren und sich stritten, aber genötigt gewesen waren, wieder Freundinnen zu werden, weil sie nur einander hatten. Gemeinsamen Kummer. Gemeinsame Geheimnisse. Gemeinsame Schrammen und Träume.

      Der Schnee war trotz allem zusammengeschrumpft auf den Wiesen und Äckern. Er schmolz am Waldrand und in den Gräben. Aber der Frost biss Rakel in die Ohren.

      5

      Jeden Tag brach sie eine Scheibe Brot in Stücke und legte sie auf die Fensterbank. Winzig kleine Bissen. Dann setzte sie sich auf einen Hocker und wartete. Die schwarze Krähe. Die schimmernde, glänzende Elster. Sie kamen. Drehten jäh im Flug ab, wenn sie sie sahen. Verstanden, dass sie Wache hielt. Dass die Bröckchen nicht für sie waren. Es war nicht deren Junges, das sie in die Geröllhalde gelegt hatte.

      Oh nein, wirklich nicht. Sie wussten sicher, mit wem sie die Bröckchen teilen wollte.

      Sie zog langsam das Gummi von ihrem Pferdeschwanz und schüttelte die Haare aus. Sie lüftete sie, während sie dasaß. Sie wartete wohl auf ein Rotkehlchen. Oder einen Finken. Einen Wintervogel. Einen, der nicht vor dem Winter flüchtete.

      Sie aß ihr eigenes Brot und trank Milch. Die Nachmittagssonne zitterte und lebte wie ein offenes Feuer. Rollte das Licht zu ihr hin und machte sie schwindlig. Der Himmel war eine Feuerglut. Die Abende wurden so hell. Waren nichts, um sich darin zu verstecken. Das Glas stand schwankend auf einem Hocker neben ihr. Das Brot hielt sie in der Hand. Es krümelte gleichmäßig auf ihren Pullover. Sie konnte den schwachen Wollgeruch wahrnehmen, der sich mit dem Geschmack von Brot und Käse und Milch mischte.

      Zeitweise vergaß sie sich und vergaß, warum sie da saß. Kaute nur. Aber jedes Mal, wenn sie anfing zu frieren, erinnerte sie sich an den Vogel. Wollte er sich nicht bald sein Essen holen? Auch heute nicht?

      Sie nahm die Bröckchen um genau zehn Minuten nach vier von der Fensterbank und schloss das Fenster. Gleich darauf hörte sie immer, dass Frau Karlsen die Haustür aufschloss.

      Manchmal erinnerte sie sich an Ingrid. Oder an Onkel Simon und Tante Rakel. Frau Karlsen hatte erzählt, dass Ingrid angerufen habe. Dass sie auf einen Brief von Tora warte. Sie hatte das ganz streng gesagt, so wie der Pastor auf der Insel, als sie in den Konfirmandenunterricht ging. Frau Karlsen war zur Stiefmutter in dem Märchen vom Schneewittchen geworden. Sie schwatzte Tora Ermahnungen auf, die ebenso rot und giftig waren wie der Apfel, den Schneewittchen aß, bevor sie umfiel.

      Den erhobenen Zeigefinger hin- und herbewegend, sagte Frau Karlsen: »Man darf nie vergessen, seiner Mutter zu schreiben.«

      Und Tora blendete das Geräusch ihrer Stimme aus.

      Die anderen hatten die Osterprüfungen an den Tagen gehabt, an denen Tora krank zu Hause gelegen hatte. Der Oberlehrer ließ etwas von einem ärztlichen Attest verlauten. Sie hatten ihn in Mathematik. Tora saß mit geradem Rücken und blassen Wangen da. Der Pullover verhüllte ihre Hüften. Schützte sie jetzt noch immer, obwohl sie nichts mehr zu verbergen hatte. Auch das war gefährlich.

      Er sah vom Klassenbuch auf und versuchte, dem Blick des Mädchens zu begegnen. Aber Tora hatte bereits Blickkontakt mit der Weltkarte über der Tafel.

      Schließlich ergriff Anne die Initiative: »Tora hat eine Entschuldigung abgegeben. Von der Wirtin. Liegt sie nicht im Klassenbuch?«

      »Ja, aber sie hat mehr als drei Tage gefehlt«, bemerkte der Oberlehrer ungerührt.

      »Das ist doch nie so genau genommen worden. Hauptsache, die Zimmerwirtin oder die Eltern haben unterschrieben. Sie kann doch jetzt nicht mehr vom Doktor ein Attest erbitten. Sie ist schließlich wieder gesund.«

      Verhaltenes Kichern. Eine altbekannte Übelkeit stieg in Tora hoch. Sie sah die blauen Adern um die Nasenflügel des Oberlehrers. Die kalten Augen ohne Ausdruck. Angst breitete sich langsam aus. Sie ging in eine Wut über, die Tora nicht mehr beherrschen konnte. Sie spürte, dass die Schenkel unter dem Tisch zitterten. Ein sonderbar sprödes Läuten war in ihrem Kopf. Wie ein Sausen. Ein Zustand wie nach einem Fieberanfall. Warme Wollbüschel flogen vor ihren Augen vorbei. Sie griff nach dem Tisch, um das Zittern unter Kontrolle zu bekommen. Registrierte, dass der Mundwinkel sich ihrer Kontrolle entzogen hatte. Wusste, wie sie jetzt aussah. Das ließ sie noch wütender werden.

      »Da könnt ich nicht dran denken. Mir war schlecht. Außerdem hatte ich kein Geld von zu Haus … Ich glaub nicht, dass der Doktor in Breiland was umsonst macht.«

      Alle Gesichter wandten sich in erstauntem Respekt Tora zu. So eine lange Rede hatten sie bisher kaum je von ihr vernommen. Das Mädchen sah ganz wild aus. Ihr Gesicht war beinahe entstellt. Irgendetwas stimmte nicht mit dem Mund. Sicher

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