Der taube Himmel. Herbjørg Wassmo

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Der taube Himmel - Herbjørg Wassmo

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sollte sie denn nicht kommen?«

      »Sie ist seit Weihnachten nicht mehr zu Haus gewesen. Ja, sie hat natürlich auch nicht genug Geld, um zu fahren. Geld hat sie von mir nicht grad viel bekommen.«

      »Liebe Ingrid, da hätt sie ja wohl schreiben können, wenn sie blank ist.«

      »Nein, die Tora nich.«

      »Soll ich ihr denn ’n paar Kronen schicken?«

      »Nein, was ich ihr geschickt hab, reicht bestimmt bis Ostern.«

      Rakel fasste Ingrid am Arm. »Aber da haste doch getan, was du konntest. Und wenn sie nur Geld bis Ostern hat, dann muss sie ja nach Haus kommen.«

      »Sie schreibt ja auch nicht.«

      »Vielleicht hat sie sich verliebt.«

      »Die Wirtin hat gesagt, dass sie nie fortgeht. Ich bin ganz unruhig deswegen. Ich denk überhaupt an nichts andres mehr, als was die Tora macht.«

      »Das versteh ich gut.«

      Wie so oft, wenn sie zusammensaßen und redeten, hielt Ingrid den Blick gesenkt. Es irritierte Rakel auch diesmal. Aber sie ließ es sich nicht anmerken. Ingrid hatte ihre Gründe.

      Und Rakels Kümmernisse wurden dagegen zu einer Bagatelle. Wirklich kein Grund, sich wichtig zu machen. Das Geschäft blühte in dieser Saison wie noch nie. Den Schafen ging es gut im Stall, und der Frühling und der Almauftrieb standen bereits vor der Tür.

      Rakel hatte weniger Schmerzen. Sie wusste wohl, dass das Übel noch da saß. Aber die Ärzte hatten ihr Leben und Gesundheit so gut wie versprochen. Sie reiste immer wieder zur Behandlung nach Oslo. Hatte sich schon fast ans Reisen gewöhnt.

      Sie stellte sich vor, es sei eine Ferientour. Versuchte, nicht daran zu denken, dass sie ins Krankenhaus musste, zu Bestrahlung und Untersuchungen, Proben. Übernachtete in Bodø im Hotel, bevor sie das Flugzeug nach Süden nahm. Ging in Geschäfte. Ins Kino. Hatte in sich einen versiegelten Raum, in dem sie alles versteckte, was ekelhaft und krank war. Aber jedes Mal, wenn sie in den breiten Türen des Krankenhauses stand, war die Gerichtsverhandlung im Gange.

      Auf dem Heimweg graute ihr bereits vor der nächsten Tour. Die Sehnsucht nach Simon war ein Garten voller Früchte, von denen sie nicht zu essen wagte. Sie schien sich einzubilden, dass sie dafür bestraft würde. Deshalb kaufte sie sich etwas zum Anziehen, statt ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Satinblusen. Moderne Faltenröcke mit glattem Hüftteil. Alle Arten von Schuhen. Je mehr Warnungen sie über die Krankheit bekam, umso mehr suchte sie Zuflucht in diesen Nichtigkeiten. Sie war sich selbst klar darüber. Lächelte bitter über ihr eigenes Verhalten.

      Aber wenn sie Ingrids Sorgen sah, ihre Plackerei, damit es vorne und hinten reichte, wurden ihre eigenen Kümmernisse so klein.

      Sie wünschte, sich in Ingrids Schoß ausweinen und Erleichterung finden zu können. Aber das war unmöglich. Ingrid würde auch das noch auf sich nehmen und Rakels Krebs der langen Kette von Schicksalsschlägen hinzufügen, die sie jeden Tag im Tausendheim in sich verschloss. Hätte Ingrid doch etwas mehr Fähigkeit zur Freude gehabt!

      »Soll ich mal nachhören, wie es ihr geht? In der Schule anrufen?«, fragte sie vorsichtig.

      »Nein«, sagte Ingrid müde.

      »Ich find, du solltest das hier nicht so schwernehmen. Du wirst schon sehn, da ist irgendein Grund. Mach dir doch nicht solche Sorgen. Davon wird’s auch nicht besser.«

      »Du hast gut reden«, murmelte Ingrid. Sie zog sich den verschlissenen Mantel an. »Du hast kein Kind, an das du denken musst.«

      »Nein, da haste recht, Ingrid«, sagte Rakel mit flammenden Wangen.

      Es erstaunte sie jedes Mal, wenn Ingrid sie verletzte. Es war jedes Mal der gleiche Schock. Sie glaubte immer, es sei unmöglich, so etwas von Ingrid gesagt zu bekommen. Aber sie konnte ihr nicht widersprechen. Konnte es nicht, weil sie überzeugt war, dass die andere gar nicht ahnte, was sie Schlimmes gesagt hatte. Manche Menschen merkten nie, dass sie eine tödliche Lawine auslösen konnten.

      Und Rakel, die sonst über alles ungeniert redete, sank in sich zusammen und verbarg ihre Wunden vor ihrer einzigen Schwester.

      Rakel legte den Napfkuchen auf einen geblümten Teller mit gebogenem Rand. Sie hielt den Teller gegen das Licht und betrachtete ihn einen Augenblick. Als ob sie ihn auf Katzenhaare oder eine andere Unreinlichkeit hin inspizieren wollte. Dann stellte sie ihn entschlossen ab.

      »Der Henrik sagt, das ist der Dank dafür, dass ich sie auf die Schule nach Breiland schick. Es steigt ihr zu Kopf. Zu Haus ist ihr nichts mehr gut genug. Er meint, dass sie schon Weihnachten bockig und trotzig war«, murmelte Ingrid.

      »Ach so, der Henrik sagt das.« Rakel grinste nicht einmal.

      Ingrid verstand trotzdem die Spitze und senkte den Kopf. Hatte gelernt, den Kopf zu beugen. Das konnte sie am besten.

      »Ja, ich weiß, was du vom Henrik hältst. Er trägt in alle Zukunft einen Stempel. Aber du kannst ihm ja wohl gönnen, eine Meinung über die Sache zu haben.«

      »Ich gönn dem Henrik alles Gute, meine Liebe. Und ich hab den Henrik bis zum Geht-nicht-mehr verteidigt, ob das nun bei dem Gerichtsverfahren war oder zu Haus, wenn ich mit dem Simon gestritten hab. Jetzt will ich davon nichts mehr hören. Aber ich hab nie gesehn, dass der Henrik sich bemüht hätte, anderen das Leben zu erleichtern. Das muss ich doch mal sagen, wenn wir schon dabei sind.«

      »Was meinste?«

      »Stell dich nicht so dumm! Hat er jemals auch nur den kleinen Finger gerührt, um für dich oder Tora irgendetwas zu tun? Das weißte wohl. Wie ihr miteinander auskommt, wenn ihr allein seid, das geht mich nichts an … Ich mein nur, du solltest dich von ihm scheiden lassen!«

      Sie hatte es ausgesprochen. Ohne Einleitung. Hart. Ohne Umschweife. Der Nachklang war das Schlimmste.

      Von Ingrid kam kein Laut.

      »Ja! Liebste ihn denn etwa?«

      Rakel schrie es heraus wie eine Anklage. Stand da, die Hände in die Seiten gestemmt. Mit halb offenem Mund. Bereit, den nächsten Satz herauszuschleudern. Bereit, Ingrid in Grund und Boden zu reden, wenn sie sich verteidigte. Sie zu überzeugen. Sie von sich selbst zu erlösen. Zum ersten Mal störte sie die schnurrende Katze auf der Torfkiste.

      Ingrid legte den Kopf auf den Tisch, schützte ihn mit ihren dünnen Armen, so gut sie konnte.

      Rakel betrachtete sich selbst. Sie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Sie schämte sich so, dass ihre Wangen brannten. Wusste nicht, was schwerer wog: ihr eigener Hochmut – oder dass sie ihn dazu benutzt hatte, sich für einen gedankenlosen Satz über ihre Kinderlosigkeit zu rächen. Es ging ihr auf, dass es vielleicht nur wenige gab, die bereit waren, Mensch für andere Menschen zu sein. Dass sie da keine Ausnahme bildete. Aber sie war nicht fähig, die Hand auszustrecken und Ingrid zu berühren. Es war, als ob etwas sie festhielte.

      Sie ging zögernd durch den Raum und wischte die Krümel vom Küchenschrank, um Zeit zu gewinnen.

      »Kümmer dich nicht um das, was ich sag, Ingrid.«

      »Ich weiß nicht, was mit mir los ist, dass ich so wenig aushalte

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