Der taube Himmel. Herbjørg Wassmo

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Der taube Himmel - Herbjørg Wassmo

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sah verlegen ins Klassenbuch. Das hatte er nicht erwartet. Wollte nur den starken Mann markieren. Er hatte ein solches Bedürfnis nach Ordnung, gerade an diesem Tag. Und da endete es damit, dass er echte Verzweiflung sah. Er war beleidigt deswegen und prüfte nicht einmal mehr die Anwesenheitsliste. Merkte nicht, dass Gunlaug nicht auf ihrem Platz saß, weil sie mit ihren Aufgaben nicht fertig geworden war.

      Aber als er ins Lehrerzimmer kam, ließ er ein paar Bemerkungen fallen, dass ihm die Klasse etwas ungeregelt vorkomme. Es gebe da einige aufsässige Elemente. Die anderen Lehrer sahen kaum auf. Antworteten nicht. Die Kaffeetassen waren halb leer, der Kaffee nur noch lauwarm. Es war schon lange her, dass die Tassen Freude gemacht hatten.

      Der Klassenlehrer war nicht anwesend. Niemand fühlte sich verpflichtet, dem Oberlehrer zu antworten. Der konzentrierte Geruch nach Achselschweiß und Pfeifentabak mischte sich mit dem von Staub, Tinte und kaltem Kaffee. Jeder hatte mit sich zu tun. Undiszipliniertheit war ein Teil ihrer Lebensaufgabe, für jeden von ihnen. Der eigentliche Lebensprozess. Es war beinahe Blasphemie, das Wort auszusprechen. Es hatte so etwas wie eine heilige Schwäche in sich.

      Tora wurde nicht mehr nach einem Attest gefragt. Aber sie bekam Hausaufgaben, damit man hieb- und stichfeste Noten für das Osterzeugnis machen konnte. Das war nicht schlimm. Sie nahm die Aufgaben mit in ihr Zimmer und ließ sich Zeit.

      Alle Aufgaben, die ein normales Wissen verlangten, waren einfach. Sie hatte viel Platz in ihrem Kopf. Als ob Hausputz und großes Aufräumen gewesen wäre. Was sie aus den Büchern lernen konnte, saß beinahe schon, ehe sie den Text fertig durchgelesen hatte. Aber bei allem, wo sie eigene Gedanken entwickeln musste und was nicht in den Büchern stand, war es hoffnungslos, etwas Vernünftiges zustande zu bringen. Sie hatte das eigene Denken verloren. Konnte nur mechanisch lernen. Von hier bis da. Wie ein Roboter. Mathematikaufgaben nach bestimmten Regeln lösen. Verben konjugieren. Historische Fragen voller Namen und Zahlen beantworten. Zahlen! Sie waren magisch und gut.

      Aber das nützte ihr nichts, wenn sie einen Aufsatz schreiben musste. Viele Seiten voller Gedanken, die nur aus ihr selbst kommen sollten. Vielleicht schrieb sie etwas, was zu Fragen nach dem Attest führte.

      Die Wörter waren so gefährlich.

      Sie bekam schreckliche Kopfschmerzen, wenn sie die Wörter durchsiebte. Misstrauisch setzte sie sie in Reih und Glied auf eine Linie. Wusste, dass sie hinter ihr her waren. Es kostete sie viele Stunden, einen Aufsatz über ihre Begegnung mit der Realschule in Breiland zu schreiben. Ihre Gedanken waren voller Brüche, wie die Gletscher im Frühling. Bodenlos, wie die Moore rund um das Jugendheim auf der Insel.

      Sie brachte den Aufsatz einigermaßen zuwege. Drei Seiten. Nicht mehr und nicht weniger. Sie versuchte nicht einmal, das Ganze durch Abschnitte und Zwischenräume in die Länge zu ziehen. Ließ es sein. Am letzten Schultag vor Ostern bekam sie ihn zurück. Mit der Note »ausreichend«. Sie starrte fast ungläubig auf die Note. Der Kommentar des Norwegischlehrers war gehässig. Aber er äußerte kein Misstrauen, was ihr Fehlen während der Osterprüfungen betraf. Tora verbesserte in der Pause die Rechtschreibfehler und lieferte den Aufsatz wieder ab.

      Die Norwegischnote war »befriedigend«. Sonst sah das Zeugnis gut aus. Sie war glimpflich davongekommen. Sie wurde nicht zusammengestaucht, und es wurde auch keine Unterschrift von zu Hause verlangt.

      Da musste sie auch nicht nach Hause fahren. Sie hatte sich bereits entschlossen. In der Nacht vor Schulschluss. Während sie im Bett lag und sich ausstreckte und spürte, dass der Schlaf sich immer mehr zurückzog, und das Tageslicht sich immer deutlicher an den Vorhängen abzeichnete und die Konturen der Möbel und Dinge im Zimmer sichtbarer werden ließ.

      Sie fühlte sich beinahe glücklich. So leicht war es also. Sich zu entschließen. Für eine lange Zeit nicht mehr auf die Insel. Vielleicht nie mehr. Ihn nie mehr sehen! Nie mehr die steilen Treppen zu den Räumen im Tausendheim hinaufgehen. Nie mehr den merkwürdigen Geruch im Treppenhaus wahrnehmen. Nie mehr gezwungen sein, mit ihm an einem Tisch zu sitzen.

      Sie würde Ingrid schreiben. Sagen, dass sie Ostern woandershin wollte. Auf eine Hütte. Zusammen mit Freunden. Freundinnen. Sonst würde es ihr wohl nicht erlaubt werden. Die Idee war ihr in der Schule gekommen. Viele wollten auf eine Hütte. Und sie wollten alle zu Hause sagen, dass sie mit Freundinnen hinwollten. Machten aus, sich gegenseitig zu decken, falls gefragt wurde. Kicherten nervös und fühlten sich sehr erwachsen.

      Der Brief wurde kurz. Ohne Schnickschnack. Bat nicht um Geld. Sie brachte ihn sofort zur Post.

      Die Erleichterung machte sie schwindlig. Sie saß lange auf einem Stahlrohrstuhl in der Post, nachdem sie den Brief abgeliefert hatte. Der Postbeamte sah sie ganz seltsam an, und sie bekam Angst, dass er fragen würde, ob sie krank sei. Diese Frage ertrug sie nicht.

      Dann ging sie in die Bibliothek. Lieh sich ein Netz voll Bücher aus. Sie kaufte Brot, Kaffee, Ziegenkäse und vier Eier. Trug alles zusammen hinauf in ihr Zimmer und setzte sich vor das offene Fenster, um den Vogel zu füttern. Sie hatte keinem Menschen erzählt, dass sie Ostern in Breiland bleiben werde. Alle hielten es für selbstverständlich, dass sie nach Hause fuhr.

      In Sicherheit! Viele Stunden konnte sie hier mutterseelenallein sitzen, ohne dass jemand zu wissen brauchte, wo sie war.

      Zehn Minuten nach vier schloss sie das Fenster, weil Frau Karlsen zu erwarten war. Die Vogelmutter kam nicht. Tora reckte sich nach allen Seiten, bevor sie das Fenster heranzog und die Haken einhängte. Die Bröckchen hatte sie hinaus in den Schnee gefegt. Sie waren gelbe Flecken da unten in all dem Weiß. Jeden Morgen waren sie fort. Sie hörte das Geschrei und Gekrächze der Krähen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann Frau Karlsen entdecken würde, warum sich so gierige Vögel in der Nähe ihres Hauses aufhielten.

      Tora schob den Gedanken von sich. Sie musste Kontakt zu der kleinen Vogelmutter bekommen. Erzählen, wohin sie das Junge gelegt hatte.

      6

      Rakel entschloss sich, nach Breiland zu fahren. Das komme so plötzlich, meinte Simon. Sie erklärte, dass sie Menschen sehen müsste, sonst würde sie ersticken. Alles sei so klein auf der Insel …

      Ob das seine Schuld sei? Nein, versicherte sie ihm. Aber so leicht war er nicht zu überzeugen.

      Schließlich musste sie mit der Sprache herausrücken, dass nämlich Ingrid ganz verzweifelt war, weil sie einen kurzen, kalten Brief von Tora bekommen hatte, in dem sie ihr mitteilte, dass sie Ostern nicht kommen werde, weil sie mit Freundinnen auf eine Hütte wolle.

      Simon meinte, dass es doch prima sei, dass das Mädchen Freundinnen habe. Es sei doch wohl nicht schlimm, wenn sie Ostern nicht nach Hause komme. Rakel seufzte und gab ihm recht, aber sie bestand trotzdem darauf, nach Breiland zu fahren. Da könne sie nach Tora sehen. Ein bisschen allein sein. Ins Kino gehen. Sie habe Bauchweh, fügte sie hinzu. Da zog er den Kopf ein und sagte nichts mehr.

      Rakel musste handeln, wenn die Gedanken sie plagten. Immer musste sie etwas tun. Sie war eben so.

      Sie dachte darüber nach, was wohl der Grund für Toras Brief sein könnte. Ein Freund, von dem sie der Mutter nichts zu erzählen wagte? Nein, da hätte sie versucht, mit vielen Details, vielen Entschuldigungen eine Erklärung zu finden. Da hätte sie wahrscheinlich einen netten Brief mit überzeugenden Lügen geschrieben.

      Simon brachte Rakel in dem kleinen Motorboot über den Fjord. Sie versprach, gleich nach ihrer Ankunft anzurufen. Stand da in ihrem neuen blauen Wollmantel, den sie beim letzten Besuch in Oslo gekauft hatte. Er war ein Schild gegen neugierige Augen, damit die Leute nicht ihren abgemagerten, kranken Körper sehen sollten, wenn sie in Været spazieren ging. Sie sollten nur nicken und sagen: Rakel Bekkejordet

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