Der taube Himmel. Herbjørg Wassmo
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Читать онлайн книгу Der taube Himmel - Herbjørg Wassmo страница 4
»Es ist besser, du gehst morgen nicht mit auf den Friedhof!«
Frau Karlsens Stimme wurde von den Wänden aufgesaugt, und das Gesicht wuchs und wuchs. Tora schüttelte den Kopf und schluckte. Hätte so gerne etwas gesagt – etwas Nettes. Aber es war nicht möglich.
»Es ist zu kalt für dich, wo du gerade krank warst. Aber komm zum Kaffee runter. Um vier!«
Tora schloss die Tür hinter ihr ab und suchte ihre Kleider für den nächsten Tag zusammen. Zögernd zog sie die Jeans an. Der Reißverschluss ging wieder zu! Merkwürdig, dass ein Körper wieder so wurde wie vorher. Sie stand mitten im Zimmer und sah an sich hinunter. Traute sich nicht auf den Flur, um sich im Spiegel zu betrachten. Es könnte doch jemand kommen. Noch zitterte sie ein wenig, wenn sie länger stand. Aber morgen würde es besser sein. Viel besser! Sie versuchte, sich in dem kleinen Spiegel zu betrachten, den sie an der Wand hängen hatte, fühlte sich schwindlig und elend. Aber die Neugier war zu groß. Sie kletterte unsicher auf einen Stuhl und hielt sich an der Wand fest. Der Hose war deutlich anzumerken, dass zuletzt ein anderer Körper sie getragen hatte. Sie schien von jemandem geliehen zu sein, der ein paar Nummern größer trug.
Während sie sich so musterte, ging es ihr auf, dass sie – abgesehen von den laufenden und schmerzenden Brüsten und den Blutungen – ungeschoren davongekommen war.
Konnte sie es wagen, daran zu glauben? Sie drehte sich ein bisschen, um ihren eingesunkenen Hosenbund auch von der Seite sehen zu können. Sie kletterte vom Stuhl herunter und sank mit den Jeans ins Bett. Die Augen liefen über. Ein Strom der Erleichterung.
Aber das kalte, tote Bündel im Geröll?
»Was für ein Bündel?«
Weit draußen auf dem Fjord glitt das Tauwetter heran. Nasskalt und lauernd und ohne eine andere Hoffnung, als dass es ein fremder Frühling aus dem Süden war.
3
Tora ging nach der Schule in den Supermarkt und kaufte zwei Pakete Binden. Sie steckte sie schnell in das Plastiknetz zu den Schulbüchern. Erst als sie auf dem Weg nach draußen war, fiel ihr ein, dass sie sich etwas zu essen hätte kaufen sollen. Aber sie konnte einfach nicht noch einmal hineingehen. Es roch da drinnen so stark nach Fleisch.
Den ganzen Tag hatte sie durch die Menschen hindurchgesehen. Sie lösten sich vor ihr auf.
Jeder hatte seinen Lichtschimmer. Meistens in bläulichen Nuancen. Aber auch in roten und gelben. Besonders um die Köpfe. Das machte sie unnahbar und unwirklich. Tora hielt sie von sich fern. Einmal strich Jon im Korridor an ihr vorbei. Er hatte ein weißes Licht um sich. Sie fühlte sich verschwitzt und schmutzig. Er hob eine Hand, als ob er sie anfassen wollte. Sie floh hinter die Toilettentür.
Sie fühlte wieder so etwas wie Einsamkeit. Saß dort, bis es zur Stunde schellte.
Alle standen in Gruppen oder zu zweit da. Ein paarmal streifte sie der Gedanke, dass sie nur in irgendeinen Kreis hineinzugehen und so zu tun brauchte, als ob sie dazugehörte. Aber es wurde nichts daraus.
In den beiden ersten Stunden war es ganz gut gegangen. Sie hatte die Entschuldigung abgeliefert. Die Pausen waren schlimmer. Meistens hielt sie sich auf der Toilette auf. Hoffte, der aufsichtführende Lehrer würde nicht merken, dass sie immer von dort kam, wenn es klingelte.
Frau Ring, die sie in Englisch hatten, kommentierte laut, dass sie noch nicht gesund aussehe. Ob sie nicht zu früh aufgestanden sei? Und das Licht um Frau Rings Kopf explodierte. Frau Ring fragte vorsichtig, ob sie Aufgaben gemacht habe, ob jemand mit den Aufgaben bei ihr gewesen sei.
Tora räusperte sich und sagte, dass sie ab den Aufgaben für Samstag drei Seiten weiter gelernt habe. Sie wurde starke Verben abgefragt. Konnte antworten. War froh, dass sie irgendwie mit dabei war.
»Danke!«, sagte Frau Ring und machte hinter Toras Namen ein Zeichen.
Die Wände beugten sich über Tora. Lange. Als sie aufsah, war sie nicht mehr im Kreis. Ihre Minute war vorüber. Alle Blicke hafteten an dem, der jetzt abgefragt wurde.
Da entdeckte sie es: dass die Telefondrähte, die von der Hauswand zu dem Pfosten bei der Eingangspforte führten, voller Spatzen waren. Spatzen! Winzig kleine Vögel, die zurückgekommen waren. Warum? Wozu kamen sie? Wussten sie nicht, was für ein Leben Vogeljunge heutzutage zu erwarten hatten? Und das Licht um Frau Rings Kopf wurde zu einem kleinen roten Nest aus Handtüchern, in dem ein bläulicher kleiner Vogel saß. Er pfiff ein bisschen heiser. Als ob er nicht genug Luft bekäme.
Tora dachte nicht an die englischen Verben.
Die Stimmen kamen und gingen, sie sah die Münder sich wie in einer Welle bewegen. Sie fing bei Frau Ring an und pflanzte sich durch die ganze Klasse fort. Aber sie konnte nicht hören, was gesagt wurde. Sie dachte an Frits. Er hörte auch nichts. Zum ersten Mal verstand sie, wie das war. Die Kugellampen schwankten leicht über ihrem Kopf. Im Takt, als ob jemand sie in Bewegung gesetzt hätte. Anne drehte sich zu ihr um, öffnete den Mund, und es wogte und wogte. Und es galt nicht ihr. Sie hatten alle ihr Licht, ihre Wellen.
Es war die letzte Stunde. Die Augen: Sandpapier auf einer Wunde. Sie trödelte lange, nachdem es geklingelt hatte. Wartete, bis alle gegangen waren. Als sie nach draußen an die Luft kam, hatte sie das Gefühl, tagelang die Treppen im Tausendheim geputzt zu haben, während die Haustür zu dem eiskalten Schnee hin offen stand, und hinter jeder Schmutzspur, die sie weggeputzt hatte, wurde neuer Schmutz gemacht.
Sie war in ihr Zimmer gegangen, hatte sich angezogen hingelegt und war eingeschlafen. Um vier Uhr kam Frau Karlsen in einem neuen schwarzen Kleid herauf und lud sie zum Kaffee ein. Tora hatte die Tür nicht abgeschlossen. Sie schaute schnell an sich hinunter, wie es ihr zur Gewohnheit geworden war, bevor sie Frau Karlsen bat hereinzukommen. Ob sie noch nicht gesund sei? Frau Karlsens Stimme klang aufgesetzt teilnahmsvoll. Ob sie ein paar Schnittchen nach oben haben wolle? Tora zwang sich zu antworten. Sie setzte sich auf und klagte, dass sie sich noch ziemlich elend fühle. Frau Karlsen möge bitte entschuldigen, aber sie könne nicht nach unten kommen …
Eine fremde Frau mit einem harten, stechenden Blick kam mit einem Tablett. Sie war in Schwarz, wie Frau Karlsen, und trug um beide Handgelenke schwere Armbänder. Sie sagte »Bitte« und »Lass dir’s gut schmecken« und versuchte ein paar Worte mit Tora zu wechseln, während ihre Augen wie Motten umherschwirrten – Tora erkannte ihre Stimme wieder. Sie hatte sie durch die Wand gehört. Sie glich einer der bösen Gestalten aus Alice im Wunderland. Oder war sie eine der Figuren, die auf den Spielkarten abgebildet waren?
Tora aß.
Noch hatte sie Ingrids Brief nicht geöffnet. Sie fasste den Entschluss, nie mehr auf die Insel zurückzukehren. Kaute die sorgfältig zurechtgeschnittenen Brote und dachte immer wieder daran.
Dann setzte sie sich an den Tisch und holte die Bücher hervor. Brauchte viel Zeit. Es flimmerte und barst vor ihren Augen. Ingrids Brief wuchs aus der Tischschublade und klebte sich an alles, was sie in die Hand nahm. Schließlich zog sie ihn langsam heraus und schlitzte ihn mit einer Stricknadel auf.
Ingrid schrieb vom Wetter. Vom Ausbleiben der Fische, so dass sie ohne Verdienst sei und Tora ein wenig auf das Geld warten müsse, das sie zum Leben brauche. Eine Woche? Die Buchstaben kamen ihr entgegen wie einsame blaue Spuren im Schnee. Kreisten um ihre Arme. Sie baten Tora zu sparen, so dass sie jedenfalls Ostern nach Hause kommen