Wenn ich das geahnt hätte. Anne Christina Mess
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Weltbild bringen. Sie kann uns einen bewussten Umgang mit dem Thema Tod, auch unserem eigenen Tod und unserer Endlichkeit ermöglichen.
Trauern wird leider immer noch – genau wie der Tod, der Selbstmord – in weiten Kreisen unserer Gesellschaft TABUisiert. Vielfach empfinden wir (haben wir) Angst oder Unsicherheit im Umgang mit einer trauernden Person, möchten vielleicht durch die Auseinandersetzung mit ihrem Schmerz nicht an eigene erlittene Verluste erinnert werden. Möglicherweise sind wir selbst nicht aus unserer Trauer herausgekommen oder haben sie wegzuschieben versucht?! Dagegen kann ein gesundes Trauern, also ein Zulassen der verschiedenen Emotionen wie Überwältigung von Sinnlosigkeit, Angst, Wut, Hass, uns positiv verändern. Wir können dadurch reifen und den Blick für das Wesentliche im Leben schärfen.
Zudem macht uns ein gelungener Trauerprozess auch kompetenter im Umgang mit trauernden Mitmenschen und trägt zur dringend nötigen Enttabuisierung der Bereiche Tod und Trauer bei. Die Bibel sagt: »Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.«3
Dies ist eine Aufforderung, uns mit der Kürze unserer Lebensdauer und der Ausgestaltung unseres Lebens zu beschäftigen. Ein trauernder Mensch fühlt sich durch den erlittenen Verlust wie selbst aus der Welt ausgestoßen, als wäre nicht die verstorbene Person aus seiner Welt gegangen, sondern er selbst herausgerissen. Dadurch fühlt er sich einsam und erschüttert in seiner bisherigen Ordnung. Um diesen Verlust zu überwinden, bräuchte er Menschen, die ihm bei der Suche nach seinem Selbst- und Weltverständnis helfen. Sie sollten ihn außerdem dabei unterstützen, die übermäßige Tendenz, sich mit dem Vergangenen zu beschäftigen, zu überwinden. Aber in der ersten Zeit nach dem Verlust ist es gerade notwendig, im Sinne von »die innere Not wendend«, dass wir gemeinsam mit dem Trauernden über die verstorbene Person sprechen. Danach sollte es dann darum gehen, den Toten schrittweise loszulassen, um daran anschließend eine gegenwarts- und zukunftsgerichtete Perspektive entwickeln zu können. Gelingt diese Entwicklung auch über viele Monate oder gar Jahre nicht, droht das Abrutschen in ein pathologisches (ungesundes) Trauern.
Es geht eben bei der Begleitung Trauernder auch darum, sie vor einer inneren Versteinerung und dem Nichts-mehr-Tun zu bewahren sowie ihnen aufzuzeigen, dass sie mit dieser Belastung umgehen können und es für sie trotz dieser akuten Erschütterung ein »Leben danach« geben wird.
Das Abschiednehmen von einer geliebten verstorbenen Person, verstanden als Trauerarbeit, verläuft in verschiedenen Phasen, die Chancen zum psychischen Wachstum in sich bergen, aber auch ungünstig verlaufen können.4
Wenn Eltern zu Waisen werden …
In den folgenden Ausführungen werden die Phasen des Trauerns in leicht modifizierter Form aufgegriffen. Eine fiktive Person berichtet aus ihrer Erfahrung mit dem Selbstmord ihres 18-jährigen Sohnes, was ihr in den verschiedenen Stadien jeweils wichtig wurde und womit ihr andere Menschen helfen konnten.
Eine Mutter, nennen wir sie Frau G., die ihren damals 18-jährigen Sohn durch Selbstmord verlor, beschreibt im Folgenden, was Eltern durchleben, deren Kind sich umgebracht hat. Es ist kein mir persönlich bekannter Fall, sondern es sind auf Tatsachen und Beobachtungen beruhende Stufen. Sie beschreiben, was verwaiste Mütter und Väter durchleben können, wenn ihr Kind sich umgebracht hat.
Der Schock (1. Stufe)
»Plötzlich wurde ich aus meiner bisherigen Welt gerissen und betrat eine andere, mir bisher unbekannte Welt. Ich hatte diesen Weg nicht freiwillig gewählt, sondern wurde gezwungen, ihn zu gehen. Ich spürte, dass er mein Denken, Fühlen, Erleben und Verhalten sowie meine Beziehungen nachhaltig verändern würde. Auf einmal war alles anders, nichts stimmte mehr. Ich konnte es nicht glauben und wurde von einem einzigen Satz beherrscht: ›Es ist nicht wahr.‹«
Frau G. stand zu dieser Zeit unter Schock, der die normale menschliche Reaktion auf den Verlust eines geliebten Menschen ist. Die Schockphase kann über einige Stunden gehen, aber auch Tage andauern. Durch die Schockreaktion Schutz schützt der Körper sich. Menschen unter Schock fühlen sich wie in einen Schutzmantel gehüllt, wie betäubt und gelähmt in ihrem Denken, Fühlen und Handeln. Manchmal kommt es in dieser Phase auch zu unkontrollierten Handlungen wie z. B. Weglaufen. Für die Mitmenschen wirkt ein Mensch im Schockzustand wie unerreichbar. In ihm drin fühlt er sich wie abgestorben.
Wir sehen, dass ein Schock den ganzen Menschen in seinem Denken, Fühlen und Handeln erfasst, sein Körper, seine Seele und sein Geist sind betroffen. Für Helfer scheint es dabei manchmal schwierig zu erkennen, was der Betroffene bräuchte. Es ist tatsächlich nicht viel, was wir tun können, aber es ist auch nicht gar nichts. Je nach Ausmaß des Schocks kann ärztliche Hilfe nötig werden, möglicherweise vorübergehend auch in einer Klinik. Dort können wir die Person besuchen, wenn sie es wünscht. Es braucht in dieser Phase vonseiten der Helfer ein Gespür dafür, den verwaisten Vater oder die verwaiste Mutter nicht allein zu lassen, aber sich auch nicht aufzudrängen. Wir sollten sie fragen, wo sie Unterstützung im Alltag braucht, ohne sie aber auf der anderen Seite zu entmündigen oder im Übermaß zu unterstützen. Eltern, die ihr Kind durch Selbstmord verloren haben, brauchen Zeit zu erkennen und zu verinnerlichen, dass das Unfassbare doch wahr ist, dass es sich niemals wird rückgängig machen lassen. Sie sollten den Raum und das Vertrauen bekommen, um ihre Gefühle von Trauer, Ohnmacht und Hilflosigkeit zeigen zu können. Sie müssen sich in dieser Phase nicht beherrschen und Haltung bewahren. Es scheint in unseren mitteleuropäischen Breitengraden zum guten Ton zu gehören oder eine erstrebenswerte Tugend zu sein, die Traurigkeit und Trauer nach außen nicht zu zeigen. Nur langsam und punktuell setzt sich das Wissen durch, dass durchlebte Trauer, die nicht geschluckt wird, heilsam für die Seele ist.
Die Reaktion (2. Stufe)
Frau G.: »Ich fragte mich, warum nun ausgerechnet mir das passiert war, wozu das sein musste. Ich hatte so starke Gefühle, wie ich sie bisher nicht kannte: Angst, Schuld, Wut, Einsamkeit. Und dann waren da dieser uferlose Schmerz und die alles überschattende Traurigkeit. Ich suchte meinen Sohn überall, ich sah ihn überall, ich hörte ihn überall – und zwar in der Welt, wie sie noch bis vor Kurzem war, in der er mit mir lebte. Ich fragte mich, warum er in seinem Abschiedsbrief geschrieben hatte, dass er verbrannt werden will.«
In der Phase der Reaktion wird die Erkenntnis des erlittenen Verlustes zunehmend zur absoluten Gewissheit. Das Nicht-wahr-haben-Wollen (oder -Können) in der vorangegangenen Schockphase weicht einem schmerzhaften Wahr-haben-Müssen. Es ist typisch menschlich, dass wir verstehen wollen, was mit uns und um uns herum passiert. Verwaiste Eltern kreisen gedanklich in dieser Phase um die Fragen nach dem Warum, nach den Ursachen, nach eigenen Versäumnissen und Fehlern. Sie sprechen wahrscheinlich darüber, was sie hätten anders und besser machen sollen. Überlegungen, wie es vielleicht anders gelaufen wäre, wenn sie in der Vergangenheit in dieser oder jener Situation anders reagiert hätten, tauchen auf. Unausweichlich kommt der Tag der Beerdigung, der für viele Eltern einen zusätzlichen Schmerz bedeutet, wenn ihr Kind eine Feuerbestattung wünscht. Die Beerdigung jedweder Art konfrontiert noch einmal deutlich mit der harten Tatsache: »Du kommst nie mehr zurück.« Es heißt danach, mit dieser Erkenntnis weiterzuleben, dem eigenen Leben dennoch einen Sinn abzugewinnen.
In der Zeit vor und nach der Beerdigung brauchen verwaiste Eltern (und natürlich auch die Geschwister des toten Bruders oder der toten Schwester) Menschen, denen gegenüber sie ihre extremen Gefühle aussprechen dürfen und soweit möglich, auch ausleben. Insbesondere sollten sie klagen, weinen und ihren Schmerz zeigen dürfen, wofür sie Verständnis brauchen. Als Begleiter brauchen wir keine Patentantworten zu geben, denn damit helfen wir nicht, sondern blockieren die Brücke zum anderen, tragen zu seinem inneren Rückzug bei. Es genügt und kann sogar viel für einen Betroffenen bedeuten, wenn wir für ihn da sind, »nur« zuhören oder vielleicht selbst auch weinen müssen. Als Außenstehende wundern wir uns manchmal, was