Wenn ich das geahnt hätte. Anne Christina Mess

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Wenn ich das geahnt hätte - Anne Christina Mess

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es nichts Selbst- oder Fremdgefährdendes ist, sollten wir dabei tolerant sein, allenfalls behutsam nachfragen, was es für den trauernden Menschen bedeutet.

       Bearbeitung (3. Stufe)

      Frau G. erinnert sich: »Ich grübelte sehr viel und zog mich von der Außenwelt zurück. Mir erschien alles sinnlos. Es war mir unbegreiflich, wieso das Leben neben mir einfach so weiterging, als wäre nichts passiert. So langsam ahnte ich, dass mein Kampf gegen die grausame Realität am Ende ein Kampf gegen mich selbst wurde. Ich wusste, was ich gegen meinen Willen und unwiederbringlich verloren hatte. Nur ich allein musste entscheiden, wie ich künftig weiterleben wollte.«

      Wir erkennen bei Frau G. etwas für die Phase der Bearbeitung des Verlustes Typisches: Die Gedanken und Gefühle spalten sich und können sich innerhalb kürzester Zeit abwechseln. Nicht selten kommt der Wunsch auf, dem Verlorenen hinterherzugehen, und es gibt tatsächlich Selbstmord als Folge auf einen Verlust durch natürlichen Tod oder Selbstmord. Verwaiste Eltern versuchen in dieser Phase, sich dem Kampf zu stellen, den die Verarbeitung des Selbstmords ihres Kindes ihnen bereitet. Dies fällt ihnen leichter, wenn sie weitere Kinder haben, die ihre Versorgung brauchen. Im ungünstigen Fall werden Trauernde in dieser Zeit krank, entwickeln eine reaktive Depression oder geraten in Suchtverhalten. Die seelische Verarbeitung des Verlusts geht einher mit einer inneren Loslösung vom Verstorbenen und dem täglich neuen Entschluss, ohne ihn weiterzuleben.

      Als Begleiter sollten wir dem verwaisten Menschen Raum geben, sich fallen zu lassen und seine Gedanken ohne Kommentare unsererseits auszusprechen. In der Zerrissenheit zwischen dem Wunsch, dem Verlorenen nachzufolgen, und wieder am Leben teilzuhaben, können wir einen Trauernden manchmal nur schwer verstehen. Er braucht in dieser Zeit viel Geduld, auch wenn er manchmal etwas seltsam oder unentschieden wirkt. Wir sollten versuchen, Verständnis für diese Ambivalenz und die noch immer bestehende Einsamkeit aufzubringen.

       Neuorientierung (4. Stufe)

      Frau G. lässt uns teilhaben: »Was ich verloren zu haben glaubte, lebte in meinem Herzen weiter, und zwar für immer. Alles fing an, sich zu verändern: meine Sicht über das Geschehene, über das Leben, über meine Freunde, über meine Interessen und darüber, was im Leben wirklich wichtig ist. Ich bekam neue Energie und konnte Gefühle neu investieren … Ich spürte wieder Leben.«

      Wenn ein verwaister Vater oder eine verwaiste Mutter es geschafft hat, sich durch die Trauerarbeit, die seelische Schwerstarbeit bedeuten kann, bis hierher durchzuarbeiten, wird die Chance für einen Neuanfang sichtbar. Das Verhältnis zum verstorbenen Kind sowie das eigene Leben verändern sich. Trotz manchmal harten Ringens in Bezug auf den Wunsch, dem toten Kind zu folgen, hat der Entschluss gesiegt, mit dem Verlust weiterzuleben. Welche neuen Wege jemand nun beschreitet, wie sehr er in die Familie und andere Beziehungen investiert, ist von Fall zu Fall unterschiedlich und kann sich im Laufe des weiteren Lebens auch verändern.

      Für Begleiter ist es zumeist sehr entlastend, wenn sie merken, dass die trauernde Person sich und die Welt nun mit anderen Augen sieht und sich trotz allem für ihr Leben entschieden hat. Der Weg dorthin hat Veränderungen mit sich gebracht. Am Ende des Trauertals ist der Wanderer nicht mehr derselbe Mensch, der er zu Beginn war. Wir sollten diese Veränderungen als Außenstehende akzeptieren und müssen uns zunächst daran gewöhnen. Der vom Selbstmord seines Kindes betroffene Mensch wird diesen Verlust und die Zeit des Leidens nie vergessen können. Bestimmte Ereignisse wie Geburtstag oder Todestag werden alte Erinnerungen zunächst wieder wachrufen. Das innere Abgestorbensein der Schockphase sowie die schmerzhafte Sinnlosigkeit des eigenen Lebens sind zu diesem Zeitpunkt zu größten Teilen dem Willen und der Fähigkeit, das eigene Leben wieder in der Hand zu haben, gewichen.

      Menschen, die sich mit der Bibel auseinandersetzen, haben unterschiedliche Meinungen darüber, ob sie die Bibel wortwörtlich nehmen. Das Antwortspektrum reicht dabei von einem entschiedenen »Ja« bis hin zu Aussagen wie: »Entweder man nimmt die Bibel wörtlich oder man nimmt sie ernst.« Es ist jedem Menschen selbst überlassen, wie wörtlich er die Bibel nimmt und welche Bibelübersetzung ihn am meisten anspricht. Manche Menschen empfinden es nach einem harten Schicksalsschlag so, dass die Bibel sie gerade durch diese schwere Zeit ihres Lebens getragen hat. Sie sagen, dass, als ihnen der Druck, die Not und die

      Verzweiflung am stärksten und unerträglich vorkamen, die Bibel ihnen beides gab: Rat und Hoffnung. Manchmal kann es einem im Umgang mit Hinterbliebenen so vorkommen, als gebe es für sie keine Antwort auf die Frage, wozu, mit welchem Ziel und Zweck Gott ihnen bestimmte Lebenssituationen zumutet. Ein Perspektivenwechsel mag hier weiterführen: Könnte es sein, dass Gott nicht selbst aktiv Leid und Not in die Welt schickt, aber dass er es bisweilen zulassen und selbst mit aushalten muss, dass seine Kinder leiden, weil sie ihren freien Willen in zerstörerischer Weise gegen sich und andere einsetzen?! Manche Prüfungen oder Lektionen des Lebens würde sich niemand selbst aussuchen. Doch lässt sich manchmal später noch erkennen, wozu es nötig war, durch diesen Tunnel zu gehen. In solchen Tunnelzeiten brauchen Hinterbliebene Unterstützung durch Freunde und Verwandte, die sie ermutigen. Ermutigung kann für Christen auch bedeuten, Gott zu vertrauen, und zwar gerade dann, wenn sie ihn nicht verstehen. Auch gläubige Menschen werden immer wieder an die Grenzen ihrer Gedanken und Wege kommen (s. a. Jesaja 55, 8 - 9) und brauchen dann mitmenschliche Unterstützung, um daran festzuhalten, dass Gottes Gedanken und Wege höher (und besser) sind als die eigenen und dass jede Erfahrung zum Guten mitwirken kann (vgl. Römer 8, 28).

      Bei der Betrachtung der Biografie Jesu findet sich fast alles, was auch Menschen der Postmoderne an Schwierigkeiten bewältigen müssen. Somit kann es Christen helfen, sich zu fragen, ob Jesus Christus sie verstehen kann bei allem, was sie durchleiden und worüber sie sich Sorgen machen. Die Bibel macht viele Aussagen darüber, dass Gott Menschen trösten will und immer bei ihnen ist, dass er ihre Tränen sieht und für sie streitet. Gott sagt den Menschen zu, dass er sie hört. Wenn gläubigen Hinterbliebenen die Worte fehlen, um ihren Schmerz oder ihre Fassungslosigkeit auszudrücken, finden sich z. B. in den Psalmen Anregungen, wie der Verzweiflung Ausdruck verliehen werden kann. In anderen Psalmen stecken Trost, Zuversicht und Schutz.

      Insbesondere als Menschen der Postmoderne haben wir uns jedoch bisweilen eine Art Instant-Denken angewöhnt, d. h. wir sind z. B. Kaffeeautomaten gewöhnt, in die wir oben eine Münze einwerfen und nach wenigen Momenten unten den heißen Kaffee entnehmen können. Diese komfortable Einrichtung findet sich in vergleichbarer Weise auch in anderen Lebensbereichen. Sie verführt allerdings zu dem meist unbewussten Wunsch, dass es mit Gebeten genauso funktionieren sollte. Der Gott, wie er in der Bibel beschrieben wird, ist allerdings nicht dem Zeitgeist mit dieser Instant-Mentalität zum Opfer gefallen, sondern bestimmt der Bibel zufolge autonom und souverän, wann der göttliche Zeitpunkt (gr. Kairos) für sein Eingreifen gekommen ist. Die Bibel ermutigt dazu, die Gebete keinesfalls zu unterlassen, weil man annehme, sie hätten keinen Einfluss auf Gottes Handeln. Ein typisches Instant-Gebet ist ja: »Herr, schenk mir Geduld – aber sofort.« Diese humorvolle Beschreibung von Ungeduld bei Gebetserhörungen kontrastiert mit mehreren Bibelstellen, die beschreiben, dass Gott Gutes für seine Kinder vorsieht und vor allem möchte, dass sie in einer lebendigen Beziehung mit ihm leben und ihn nicht als himmlischen Gebetserfüllungsgehilfen zu missbrauchen versuchen. Bei näherer Betrachtung des »Prinzips« vieler Psalmverse lässt sich feststellen, dass sich aus der Freundschaft mit Gott Kraft, Trost, Freude und Hilfe beziehen lassen können (vgl. Psalm 37, 4 – 5). Manchmal dauern Veränderungen im Leben eines Menschen länger als erwünscht. Mag dieser Mensch diese Entwicklung nun als Gebetserhörung ansehen oder eher als menschlichen Wachstumsprozess. Gemeinsam haben diese beiden Ansichten, dass Seele und Geist sich an Veränderungen anpassen müssen. Mit anderen Worten: Ein Siebenmeilenschritt, der wie durch Zauberhand über Nacht völlig neue Lebensverhältnisse schafft, wäre für die menschliche Seele eine Überforderung.

       Post an Gott

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