Totensteige. Christine Lehmann

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Totensteige - Christine Lehmann

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sie das »Frau« eigentlich so ironisch betonen?

      »Ist der Zufall eine Religion?« Und sag jetzt nicht wieder, ich wollte die Lacher auf meine Seite ziehen!

      Nein, sie sagte es nicht. Im Gegenteil, sie schaute mich zum ersten Mal fast anerkennend an. »Für die meisten Menschen ist das eine Glaubensfrage. Siebzig Prozent der Menschen sind überzeugt, dass es keinen Zufall gibt. Manches Zusammentreffen erscheint uns so schicksalhaft, dass wir eine lenkende In­stanz dahinter vermuten.«

      »Ich bin katholisch geprügelt worden«, bemerkte ich. »Das war lenkende Hand genug.«

      Das trug mir einen prüfenden Blick ein. »Den Test hier mit der Schmidt-Maschine haben übrigens alle Kalteneck-Probanden durchlaufen.«

      »Warum soll ich ihn dann machen?«

      »Weil Sie Journalistin sind und ich die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben habe, dass in der Zeitung auch mal was Vernünftiges steht. Ich halte es für dringend an der Zeit, dass die Parapsychologie aus der Klopfgeisterecke eines Hans Bender und aus den Gruselsphären von Akte X herauskommt. Bei uns geht es nicht um unheimliche Kräfte, Untote, finstere Mächte, Hypnotiseure, Hexen, Flüche und Wahrsagerei.« Sie lud mich mit der Hand ein, mich zu setzen.

      Ich setzte mich. »Okay. Wenn ich hinterher nicht als Parapsychopath herauskomme.«

      »Das werden Sie nicht.«

      Sie holte aus einem Schrank ein Kästchen, dessen Design aus den schwarzen Fünfzigern zu stammen schien, und stellte es vor mich hin. Sein Hauptbestandteil war ein Kreis kleiner Lämpchen.

      »Sie werden von einem Zufallsgenerator gesteuert, der das Licht vor- und zurückspringen lässt. Schauen Sie!«

      Es gab ein munteres Hin-und-her-Gespringe auf dem Lichtkreis, eins vor, zwei zurück, zwei vor, eins vor, dann wieder zurück.

      »Sie sollen sich nun wünschen, dass das Licht auf seiner Kreisbahn weiterspringt, am besten einmal ganz herum.«

      Nichts dergleichen würde ich tun. »Und was tut der Apparat dabei?«

      »Das müssen Sie nicht wissen. Sie müssen nur die Lichter in eine Umlaufrichtung wünschen.«

      »Geht es nicht mehr, wenn ich es weiß?«

      Derya Barzani schmunzelte. »Sie haben die Dinge gern unter Kontrolle, was? Nach meiner Erfahrung müssten Sie eine gewisse PK-Begabung haben.«

      »Bitte, was?«

      »PK, Psychokinese. Die unmögliche Aufgabe.«

      »Es geht doch aber offenbar, oder?«

      »Physikalisch geht es nicht. Der Zufallsgenerator basiert auf radioaktivem Zerfall.«

      »Wie bei Schrödingers Katze. Immer diese Radioaktivität.«

      Cipión stellte kurz die Ohren, ließ sie dann aber wieder fallen. Radioaktivität war ein Wort, das ihm nichts sagte.

      »Früher«, erklärte Barzani, »hat man für PK-Versuche Würfel genommen. Man ließ sie durch eine mechanisch gesteuerte Klappe eine schiefe Ebene hinunterrollen und bat die Probanden, dass sie sich wünschten, dass beispielsweise immer eine Fünf falle. Nun sind Würfel aber nie völlig gleichmäßig gearbeitet, sie haben einen Drall und bevorzugen bestimmte Augenzahlen. Deshalb hat der deutsche Physiker Helmut Schmidt in den siebziger Jahren diese Maschine erfunden. Sie enthält Strontium 90. Im Prinzip funktionieren solche Zufallsgeneratoren so: Ein Geigerzähler misst den Zerfall. Wir kennen die Rate. Im Durchschnitt zerfällt beispielsweise ein Atom pro Sekunde. Das heißt aber nicht, dass in der konkret gemessenen Sekunde tatsächlich ein Atom zerfällt. Andererseits können auch zwei zerfallen.«

      Ich nickte.

      »Ein Zerfall wird in den Wert Eins übersetzt, eine Sekunde ohne Zerfall in den Wert Null. Bei eins springt das Licht nach rechts weiter, bei null springt es zurück. Aber bedenken Sie: Von Strontium 90 wissen wir zwar, dass die Hälfte in 28 Jahren zerfallen ist, doch niemand kann vorausberechnen, wann welches Atom zerfällt. Und nichts kann den Zerfall beschleunigen oder abbremsen, kein Luftzug, keine Temperaturänderung, keine Feuchtigkeit, nicht die Lage des Kastens, keine elektromagnetischen Wellen.«

      »Aber ich kann das? Oder wie?« Ich fühlte mich befreit. Meine Haltung zu harter Arbeit oder unmöglichen Aufgaben war seit jeher die, sie andern zu überlassen.

      Sie lächelte. »Und, Frau Nerz, falls Sie vorhaben, nichts zu tun, so merken wir es auch, wenn Sie eine PK-Begabung haben. Dann produzieren Sie sozusagen einen Ausschlag ins Minus.«

      Ich nicht! Dessen war ich mir sicher. »Und Cipión? Wo soll der solange hin?«

      »Ich nehme nicht an, dass er die Schmidt-Maschine beeinflusst. Es gibt keinen Grund, warum er es tun sollte.«

      Mein Dackel wurde mir unheimlich. »Könnte er es denn?«

      »Schmidt hatte eine Katze. Die hat er in einen eiskalten Verschlag gesperrt. Darin hing eine Wärmelampe, die an seinen Apparat angeschlossen war. Die Lampe ging zufällig an und aus. Doch irgendwann wich sie vom Zufall ab und brannte länger als sie aus war. Die Katze hatte offenbar ein dringendes Bedürfnis nach Wärme gehabt. Leider hat Schmidt den Versuch mit dieser Katze nie wiederholen können.«

      »Immer diese Katzen«, sagte ich. Cipión stellte wieder die Ohren und schaute mich mit Augen wie Haselnüsse an. »Schmidts Katze, Schrödingers Katze …«

      »Fangen wir an?«

      »In drei Teufels Namen.«

      Die Parapsychologin verließ das Zimmer, und ich schaute dem Lichtkreis beim Springen zu. Unter keinen Umständen wollte ich hier irgendwas bewegen. Aber die Lichter hatten etwas Suggestives. Es quälte, dass sie so blödsinnig hin und her leuchteten und nicht über den Sechs-Uhr-Punkt hinauskamen. Es störte mich und mein optisches Gleichgewichtsempfinden. Und dann waren sie endlich mal auf der anderen Seite und kamen nicht rauf, rutschten zurück. Es war frustrierend. Es war ärgerlich und sinnlos, dass ich da draufstarrte. Wenn die Lichter einmal zügig den Kreis entlangglitten, war es eine Erholung, eine Erleichterung, eine Befriedigung. So rutschte ich hinein in das Experiment, das ich hatte torpedieren wollen, und auf einmal war ich dabei, zu fordern, dass die Lichter auf der Kreisbahn blieben, es zu wollen. Und wenn es mir gelang, dass sie in die eine Richtung sprangen, war ich stolz wie Oskar.

      Als Dr. Derya Barzani hereinwehte und mich erlöste, war das Sonnenviereck, in dem Cipión sich auf die Seite gelegt hatte, um zu schlafen, schon halb von ihm heruntergerutscht. Benommen folgte ich den prallen Waden und schlanken Fesseln in ein Büro am Ende des Gangs, in dem viele Bücher standen. Derya begab sich hinter ihren Schreibtisch und klickte sich mit starrem Blick durch Kurven und Zahlen.

      Ich rang um meine Ich-Renaissance und gierte nach einer Kippe. Also runter und raus. Auch Cipión freute sich über die Rückgewinnung seiner Identität als pinkelnder Rüde.

      Ein Paar Stockenten durchpflügte das grüne Wasser im Graben. Mein Handy klingelte. Ich hatte es gar nicht leise gestellt, fiel mir auf. Und trotzdem rief Richard erst jetzt an und fragte: »Wo steckst du denn?«

      Mir fiel ein, dass ich Dr. Barzani eigentlich nach Rosenfelds Besuch in Neuschwanstein hatte fragen wollen und es nicht getan hatte. »Auf Kalteneck«, antwortete ich.

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