Totensteige. Christine Lehmann

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Totensteige - Christine Lehmann

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du das?«

      »Nein«, sagte er leicht besorgt. »Alles in Ordnung bei dir?«

      Wann war je irgendwas in Ordnung bei mir? »Ich möchte mit dir nach Neuschwanstein fahren, Richard.«

      Ich hörte ihn atmen. »Okay, wenn dir das so wichtig ist.«

      Ich verschluckte mich vor Überraschung. »Wann?«

      Zwei Tage später verhaftete man in einem transsilvanischen Dorf zwei Brüder, bei denen sich Spuren des verwendeten Sprengstoffs fanden. Der Gute Tag berichtete, sie hätten gestanden, dass sie zusammen mit einem Cousin aus einem Nachbardorf den Überfall auf den Gefangenentransport in Stuttgart begangen hatten. Den Auftrag hätten sie Anfang Februar über einen Kontakt aus dem kriminellen Milieu erhalten, zusammen mit einer Anzahlung von 30 000 Euro. Bei Ablieferung des Befreiten hätten sie dasselbe noch einmal bekommen sollen. Über den Mann, den sie befreien sollten, hätten sie nichts gewusst. Sie hätten ihn in einem Transporter über die tschechische Grenze bringen und dort auf einem Parkplatz stehen lassen sollen. Nachdem das alles nicht geklappt habe, seien sie zurück in ihr Dorf Viestea de Sus gefahren.

      Die Spur zum Auftraggeber endete für die Ermittler nach weiteren vier Tagen in Moskau bei der Leiche des Kontaktmanns aus dem kriminellen Milieu.

      Der Presse konnte ich auch entnehmen, dass Juri Katzenjacob sich zu dem Vorgang nicht äußerte und sein Anwalt bessere Schutzmaßnahmen forderte. Über Kontakte Juris nach Osteuropa wurde nichts bekannt, aber der Gute Tag hatte ein Mädchen ausgegraben, noch Schülerin, wegen der es Juri angeblich nach Böblingen gezogen hatte. Eine gewisse Angela K., hübsch und Nichte des Malermeisters, der Juri angestellt hatte. Der Gute Tag zitierte sie auf der Stuttgarter Lokalseite mit den Worten: »Mich hat’s vor ihm gegruselt«, und kolportierte die Geschichte, dass Juri auf einer Landstraße plötzlich angehalten habe, ausgestiegen und zu einem Fuchs gegangen sei, der überfahren am Straßenrand lag. Mit bloßen Händen habe er dem Fuchs die Eingeweide herausgezogen.

      Über Facebook fand ich Angela K. auch gleich und schickte ihr die Nachricht, dass ich mich gern mit ihr unterhalten würde. Sie wollte erst nicht, ließ sich dann aber mit Hilfe einiger Scheine zu einer Verabredung nach Stuttgart locken. Allerdings kam sie nicht. Ging auch nicht ans Handy. Der Unfall, der sie wenige Stunden zuvor das Leben gekostet hatte, war spektakulär genug, dass ihn am Abend die Radionachrichten meldeten. Ein Siebzehnjähriger hatte ohne Fahrbegleiter im Auto vom Vater eines Freundes betrunken die Kontrolle verloren und Angelas Fahrrad auf den Kühler genommen. Sie war zwanzig Meter weit geflogen und auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben.

      Mich gruselte.

      Auf eine Antwort von Héctor Quicio wartete ich auch vergeblich. Ich telefonierte mich durch die Uni Alicante, bis man mir mitteilte, dass es dort keine Parapsychologen gab. Ein etwas genauerer Blick ins Internet ergab, dass die AEIP nicht zum Campus gehörte, sondern in einem Stadtteil namens San ­Vicente del Raspeig lag. Ich wählte die Nummer des Departamento de Investigaciones und landete bei einer Maite, die mir erklärte, sie kenne keinen Héctor, aber sie sei auch erst seit März im Institut. Und sie sei auch gerade ganz alleine. Ich solle in einer Stunde wieder anrufen. Da konnte sie mir immerhin sagen, dass ­Héctor das Institut Anfang des Jahres verlassen habe. Sein Vater sei krank geworden, er habe der Mutter mit dem Restaurant helfen müssen. Wo das sei, konnte sie nicht sagen. Eine private E-Mail-Adresse habe sie nicht, sie wolle sich aber erkundigen. Als ich gegen ein Uhr wieder anrief, war Mittagspause. Auch am Nachmittag ging niemand mehr an den Apparat.

      Ich fand Héctor Quicio in Facebook. Aber er hatte sein Profil nur für FreundInnen offen, deren er an die tausend besaß. Eine Schnittmenge mit meinen gab es nicht. Ich suchte mir die hübscheste unter den ersten zehn aus und schickte ihr eine Freundschaftsanfrage. Sie hieß Rosario Fornes de la Torre.

      Sofort Erfolg hatte ich mit Kitty zu Salm-Kyrburg. Sie erklärte sich bereit, uns mit ihren Leuten zu einer PU zu Tourismusbedingungen ins Schloss Neuschwanstein zu begleiten, vorausgesetzt, ich übernähme die Kosten von Anreise, Parkplatz, Eintritt und Verpflegung. »Und Sie müssen die Eintrittskarten vorbestellen, sonst müssen wir zwei Stunden anstehen.« Ich guckte mir die Internetseite an. Es würde teuer, wenn ich Meisner, den LOStA Krautter, die junge Staatsanwältin Nadja Locher und Roswita Kallweit überreden konnte mitzukommen. Aber waren sie wirklich nötig? Lieber hätte ich Dr. Derya Barzani dabeigehabt – keine Ahnung, warum. Und wie brachte ich das den Leuten bei?

      Ich begab mich zur inneren Klärung ins Fitnessstudio. Mit Rücksicht auf die ziependen Narben meiner Schussverletzung hatte ich erst vor anderthalb Monaten wieder angefangen, Judo zu trainieren. Und noch immer fehlten mir Kraft und Ausdauer. In dem Weiber-Studio meines Vertrauens waren die Rudergeräte nicht beliebt. Es gab fünfundzwanzig Crosstrainer, zwanzig Fahrräder und fünfzehn Laufbänder, aber nur zwei Rudergeräte. Dünne Mädchen wackelten sich auf den Steppern die Pobacken ab, dicke saßen auf den Rädern. Mit vier Ave Maria von Nina Hagen ruderte ich mich in den Rausch. Das waren 24 Minuten und fünfeinhalb Kilometer. Der Buena Vista Social Club half danach weiter mit Chan Chan, Orguellecida und Candela. Dann noch mal alles von vorn.

      Als ich mit Gummibeinen nach Hause kam, hatte die gute Oma Scheible mir einen Topf saurer Kutteln und Bratkartoffeln in die Küche gestellt. Sie waren noch warm.

      Ich nahm den Topf mit in den Salon und stellte den Fernseher an, Nachrichten gucken. Es war der Tag, an dem US-Militärs in einer Villa im pakistanischen Kurort Abbottabat, ihren Angstgegner Osama bin Laden erschossen hatten und aufgeregte Journalisten Obama bin Laden und Barack Osama sagten, die Anschläge auf das World Trade Center in New York auf den neunten Elften legten und bewiesen, dass sie das Töten von Gegnern viel geiler fanden als deren Verhaftung und Anklage.

      Ich hatte gerade begonnen, mit großem Löffel die Kutteln zu schlabbern, da rief Richard an. »Kannst du mal bitte schnell ­herüberkommen? Ich sag an der Pforte Bescheid.«

      »Was gibt’s? Ich bin gerade …«

      »Bitte!« Damit legte er auf.

      16

      Ich blickte Cipión in die nussbraunen Augen. Noch nie hatte Oberstaatsanwalt Dr. Weber mich in seinem Büro sehen wollen. Was ziehe ich da jetzt an? Business- oder Verbrecherkleidung. Was bei ihm keinen Unterschied machte, denn er war Staatsanwalt für Wirtschaftsstrafsachen beim Landgericht Stuttgart, er sah Kriminelle in Boss-Anzügen. Diesmal musste ich mich jedenfalls nicht mit meinem Judo-Ausweis, der die Farbe der Ausweise der Steuerfahnder hatte, zur Hintertür hineinmauscheln. Ich durfte vorn rein, offiziell als Lisa Nerz. Aber was trage ich, wenn ich ich bin? Ich kajalte meine Narben, tat mir alle Lederarmbänder um, die ich besaß, polierte den Brillanten im Ohr, gelte meine Haare, zog das Rip-Curl-T-Shirt mit dem Schädelprint an, dazu eine Boyfriend-Jeans mit Nietengürtel und Sneakers. Und dann doch noch das blaue Nadelstreifenjackett mit den Innentaschen für Geldbeutel, Handy und andere Kleinigkeiten. Ja, so ka’sch auf’d Gass.

      Cipión guckte. Die Haarbüschel über seinen Augen gingen abwechselnd hinauf.

      »Hast ja recht, alles Verkleidung. Ich hab halt kein Fell.«

      War Cipión eigentlich zufrieden mit seinen drahtigen graubraunen Haaren, oder wünschte er sich zuweilen das seidige Fell eines Collies? Verglichen sich Tiere mit andern? Ich bin schlanker, meine Ohren sind hübscher. Oder war das Vergleichen eine ausschließlich menschliche Eigenschaft? So aussehen wollen wie alle und dennoch unverwechselbar und eigen bleiben. Die unmögliche Aufgabe.

      »Möchtest du mit?«

      Cipión wedelte mit der Rute.

      »Richard besuchen?«

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