Totensteige. Christine Lehmann

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Totensteige - Christine Lehmann

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Aufgabe. Sie können den radioaktiven Zerfall nicht beeinflussen. Sie können ihn nicht stoppen oder beschleunigen. Diese statistischen Ausreißer produziert die Schmidt-Maschine hin und wieder von selbst. Wir nennen das eine Fluktuation. Sie kommt in allen Systemen vor. Abweichungen, Extremzustände. Der springende Punkt ist der: Die Maschine hat die Fluktuation genau in dem Moment erzeugt, als Sie das wollten.«

      »Aha. Wie das?«

      »Man könnte es vielleicht so erklären: Sie haben sich just in dem Moment ins System eingeschwungen, als es eine Fluktua­tion produzierte. Sie sind Teil des Systems gewesen.«

      »Das muss ich jetzt nicht verstehen, oder?«

      »Es wäre schön, Sie würden es versuchen. Ich möchte, dass Sie verstehen, was wir daraus schließen. Wir schließen nämlich, dass Psi keine Energie ist, welche die physikalischen Verhältnisse außer Kraft setzt. Es handelt sich hier nicht um eine Kraft. Sie sind kein Sender, der Apparat ist kein Empfänger.«

      »Hm.«

      »Wenn es eine Kraft gäbe, die von außen auf die Maschine einwirkt, dann müsste man eine Spur davon im radioaktiven Material finden, eine Beschleunigung des Zerfalls, welche die durchschnittliche Zerfallsrate nachweisbar verändert hätte, irgendwas. Aber niemand hat bisher eine solche Spur von Psi gefunden.«

      »Und was ist es dann, was da geschieht?«

      »Psychokinese ist, wenn ein physikalisches System eine Fluktuation produziert, in dem Moment, wo Sie das wollen. Es ist eine … eine Verschwörung.«

      »Ein nicht zufälliges Zusammentreffen …«, stocherte ich.

      »Wie ich sage: eine Verschwörung. Der menschliche Geist verschwört sich mit einem physikalischen System und erzeugt eine Abweichung von der Wahrscheinlichkeit.«

      Das beeindruckte mich nicht sonderlich. Vielleicht lag es daran, dass ich von mir selten beeindruckt war. Wenn ich was konnte, konnte es nicht viel wert sein.

      »Nehmen wir ein Beispiel aus der makrophysikalischen Welt«, sagte Barzani wiederum ziemlich hellsichtig. »Ein Vater setzt seine Tochter, die gerade den Führerschein gemacht hat, ans Steuer. Hinten sitzt der kleine Bruder. Er schnallt sich los, um sich die Jacke anzuziehen. Eine Katze …«

      Cipión schaute sich hektisch um und schnüffelte in die Luft.

      »… läuft auf die Fahrbahn. Die Tochter legt ein Vollbremsung hin. Dabei verliert sie die Kontrolle über den Wagen. Er prallt gegen einen Poller und dann gegen eine Mülltonne. Der Bruder wird hinausgeschleudert. Aus der Mülltonne fliegt eine Bratpfanne heraus und …«

      Ich musste lachen.

      »Nicht möglich? Genau das habe ich vor ein paar Tagen in der Zeitung gelesen. Und weiter: Die Bratpfanne trifft den kleinen Bruder am Kopf. Er stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus.«

      Eben noch gelacht und schon tot. »Eine Verkettung äußerst unglücklicher Umstände.«

      »Eben, eine Verkettung!« Sie hob den Finger und nahm mit ihrem Blick meine Augen in die Zange. »Ein System ist entgleist. Dabei hat es jedoch nur das getan, was ihm möglich ist.«

      Grauen stieg die Kapillaren meiner Seele empor. »Und Sie meinen, jemand … die Tochter beispielsweise … hat das bewirkt? Nein, ist daran beteiligt, weil der kleine Bruder sie schon lange nervt? Oder der Vater, weil er seit Jahren von finaler Lebensflucht träumt?«

      »Das wäre eine mögliche Interpretation. Wenigstens einer im Wagen befand sich im Zustand seelischer Instabilität. Dann muss nur eine Kleinigkeit passieren, und das System gerät aus dem Ruder.«

      »Und wie muss ich mir diese geistige Instabilität vorstellen?«

      »Als ein Nicht-bei-der-Sache-Sein vielleicht. Als Versunkenheit in einem persönlichen Problem, das auf Lösung drängt.«

      »Ah so!« Ich war erleichtert. »Also ein schicksalhafter Fehler aus Mangel an Konzentration. Das kommt vor.«

      »Unentwegt. Aber entscheidend ist der Moment. Warum passiert der Unfall, als der kleine Bruder sich gerade losgeschnallt hat? Und wie oft liegen Bratpfannen in einer Mülltonne?«

      Wieso fiel Sally der Bierhumpen ihres Vaters aus der Hand oder aus dem Regal, als ihr Vater starb? »Okay. Und Sie meinen also, das kann jeder.«

      »Nein, keineswegs. Psi-Fähigkeiten hat nicht jeder, man kann sie weder lernen noch üben. Das gilt zumindest für die Labor­situation. Die Forschung hat Psi-Fähigkeiten bestimmten Charaktereigenschaften zuordnen können, ja müssen. Sonst könnten Sie jetzt sagen, die Fluktuation hätte sich auch ereignet, wenn Desirée Motzer an Ihrer Stelle gesessen hätte. Aber das ist nicht so.«

      »Und diese Charaktereigenschaften wären?« Ich gierte. Derya war ja an sich nicht zurückhaltend, mir mal kurz meine Identität zu definieren.

      »Ängstliche, verklemmte Menschen produzieren jedenfalls keine PK-Effekte. Das kann man sagen. Gesellige, gelassene und extrovertierte schon eher. Es gehört ein gewisses Selbstvertrauen dazu und eine«, sie schmunzelte, »eine starke Maskulinität.«

      »Klingt, als hätte man solche Experimente hauptsächlich mit Männern durchgeführt.«

      »Keineswegs.« Die zierliche Frau Doktor warf mir einen kurzen Seitenblick zu. »Die große Kulagina, das russische PK-­Medium … Aber von der haben Sie ja schon gehört.«

      Ich hatte sie sogar vorhin selbst erwähnt. »Die Meisterin der Salzstreuer.«

      »Sie war Soldatin. Sie hatte zwar keine Wahl, abgesehen davon, dass sie Funktechnikerin geworden war, aber Finley sagt, ihr Spirit war sehr maskulin.«

      »Was auch immer das ist.«

      Derya Barzani lächelte selbstsicher. »Na, Männer sind ja durchaus empfänglich für weibliche Signale. Und wenn sie ­fehlen …«

      15

      Mit der E-Mail-Adresse von Héctor Quicio, Mitarbeiter bei der AEIP, der Asociación Española de Investigaciones Parapsicológicas, fuhr ich nach Stuttgart zurück. Ich schrieb ihm sofort, ohne den genauen Grund anzugeben. Dann rief ich Richard an.

      Roland Hoffmann war wieder aufgetaucht. »Er stand«, erzählte Richard, »im Megastau auf der A8 an der Messe. Da sind beim Parkhaus gestern Abend zwei Gefahrguttransporter zusammengestoßen, einer mit Essigsäure, der andere mit Benzin. Die Autobahn war bis 14 Uhr 30 siebzehn Stunden komplett gesperrt.«

      »Hab ich in den Nachrichten gehört.«

      »Und Hoffmanns Akku war leer. Und du, was hast du in Kalteneck gemacht?«

      »Sozialgeräusche. Und wie war dein Tag?«

      »Lisa«, sagte er. »Was in drei Teufels Namen soll das werden?«

      »Immerhin weiß ich nun, dass ich eine PK-Begabung habe. Ich bin schon fast fahruntüchtig.«

      »Schön für dich.«

      »Weiß ich noch nicht, Richard. Mein Schicksal bekommt einen ganz anderen Unsinn, wenn ich annehme, ich hätte es selbst verursacht.

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