Müllers Morde. Monika Geier

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Müllers Morde - Monika Geier

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Müller rief Steenbergens lokales E-Mail-Programm auf, und das klappte schon mal. Gut. Darauf war aber nichts Interessantes, nur viel, viel Werbung, das hatte Steenbergen offensichtlich kaum noch genutzt, das war zur Spam-Ablage verkommen, ein Relikt aus den Tagen, da es noch keine Flatrates gab und Internetzeit teuer war. Doch jetzt konnte es noch einmal nützlich sein, denn zur Not würde es Müller helfen, das Passwort für den eigentlichen Account zu finden. Steenbergens eigentlicher Account war online. Es hatte davon mindestens zwei Stück gegeben: den geschäftlichen und einen privaten. Der geschäftliche war inzwischen stillgelegt, das hatte Müller selbst beim Technical Support der ENERGIE angeleiert und das Postfach dabei ganz offiziell noch einmal gesichtet. Doch im geschäftlichen Postfach war die Mail nicht gewesen, da hätte er es ja auch viel zu leicht gehabt. Müller rief den Browser auf und fand oben auf der Bedienerleiste ein kleines grünes Symbol. Er klickte es an und landete auf der Freenet -Eingangsseite. Gut. Weiter. Die Mailadresse kannte er, die konnte er zur Not auch manuell eingeben, das Problem war eben das Passwort, das hatte er in vielen Stunden Probierens nicht herausbekommen, und ein Trojaner nützte ihm nichts, weil Steenbergen seine Computer ja nicht mehr einschalten konnte. Lass ihn das Passwort einfach hier gespeichert haben, dachte Müller aufgeregt und klickte sich fiebrig durch die Fenster. Lass die blöde Mail noch ungelesen sein, lass sie nirgendwo aufgerufen sein, lass mich bitte bitte nicht auch noch das Laptop suchen, den Palm, das Smartphone oder sonst einen verdammten Computer irgendwo auf der weiten Steenbergen-Welt, lass ihn – er hatte das Passwort gespeichert, der liebe gute Steenbergen. Müller war drin. Sofort erschien die Meldung: Es wurde 547 Mal vergeblich versucht, auf Ihr Postfach zuzugreifen. Diese Meldung hatte Müller erwartet, trotzdem trieb sie ihm den Schweiß auf die Stirn. Er löschte sie. Dann öffnete er den Posteingang. Scrollte. Suchte. Und fand sie. Tatsächlich, da war sie, Nataschas Nachricht, Müller erkannte sie am Nachnamen, der Teil der Mailadresse war: [email protected]. Im Betreff stand schlicht: Bitte um ein Gespräch, und sie war noch ungelesen. Ungelesen. Müller keuchte vor Erleichterung. Ungelesen bedeutete, dass sie nur im Netz existierte, dass sie nicht schon in irgendeinem Gerät hockte und zufällig von einem Angehörigen oder Nachlassverwalter entdeckt werden konnte. Am dritten Tag nach Steenbergens Tod eingegangen, das war ein Montag gewesen, da hatte man im Betrieb von seinem Ableben noch nichts gewusst, die Bombe war erst später geplatzt. Drei Tage zu spät, Natascha. Diese dumme Kuh! Diese dumme, dumme Kuh! Müller atmete durch. Er zitterte. Er musste runterkommen. Er hob den Kopf.

      »Wie sieht’s aus?«, brüllte er Richtung Tür. Aus dem Keller kam gedämpfte Antwort. Der Mann von der Kanzlei behielt brav das Bild im Auge. Also nur die Ruhe. Ganz entspannt Luft holen. Ausatmen. Er hatte noch Zeit, die Nachricht zu öffnen: Lieber Gunter, stand da, ich möchte Sie dringend um einen privaten Gesprächstermin bitten. Es geht um heikle betriebliche Vorfälle, mit denen ich zu tun habe und die möglicherweise illegal sind. Mit freundlichen Grüßen, Natascha Kassin.

      Möglicherweise illegal, dachte Müller grimmig, während er die Mail löschte und den Papierkorb leerte, damit sie auch wirklich verschwunden blieb. Möglicherweise illegal! Natascha-Herzchen hatte immer dick mit abkassiert! Dann musste sie natürlich an Steenbergens Privatadresse schreiben! Und niemand hatte das Passwort für dieses blöde Postfach rauskriegen können! Diese – ach! Jetzt war zum Glück nichts mehr mit Aussteigen und Verraten, nun zitterte und schlotterte Natascha vor Angst, jetzt war sie mit der Geschichte von dieser Mail zu ihm gerannt, weil sie sich schier in die Hose machte. Weil irgendwer – ja wer wohl? Die AUFTRAGGEBER? – den großen unantastbaren Dr. Dr. ­Steenbergen am Totenmaar mit CO2 gekillt hatte, eindeutiger ging es nicht, haltet alle brav den Mund, hieß das, macht gefälligst weiter wie bisher und seid ganz ruhig, sonst kommt Mama Mafia und holt euch alle ans Totenmaar. Müller betrachtete den Computer, der nun rein und jungfräulich vor ihm stand, und fühlte sich klebrig. Man sollte aber doch noch mal nach dem Passwort suchen, dachte er. Für alle Fälle. Er horchte in Richtung Tür. Nichts. Der Typ hockte nach wie vor im Keller. Also rasch: Müller verließ das Freenet -Portal und rief den lokalen Mail-Client auf. Wenn der als Backup für den Freenet -Account angegeben war, dann würde man dort vielleicht eine alte Bestätigungsmail für das Freenet -Passwort finden. In fliegender Hast scrollte Müller sich durch die vielen Werbenachrichten. Und dann fand er sie tatsächlich, die Nachricht von Freenet , die ein Passwort betraf. Der Schweiß rann ihm den Rücken hinab, während er sie öffnete. Dann starrte er verdrossen den Bildschirm an: Das Passwort lautete at1anTI5. Was ein Hohn: Atlantis, das nie gefundene. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich Müller. Ein Gefühl, als ob das Schicksal sich heimlich über ihn amüsierte.

      * * *

      Unter dem Bildrauschen lief auf dem Laptop eine aufgedonnerte Vorabendreportage über den Vulkanausbruch auf Thera vor 3000 Jahren, und Richard war von dem Ton der Mitwirkenden schnell so genervt (Dr. Simon Meyer von der Ben-Gurion-Universität glaubt, einer absoluten Sensation auf der Spur zu sein! Dr. Simon Meyer von der Ben-Gurion-Universität, was haben Sie da gefunden? – Nun, mag sein, dass wir auf einer Spur sind! – Oh, Dr. Simon Meyer von der Ben-Gurion-Universität, das wäre ja eine absolute Sensation!), dass er beschloss, diesem Kabeltypen mal über die Schulter schauen zu gehen. Doch in dem Moment kam der schon die Treppe herabgepoltert und fragte etwas atemlos: »Na?«

      »Es hat sich nichts am Bild geändert«, sagte Richard.

      »Aha«, sagte der Kabelmann und kratzte sich am Kopf. »Tja, dann – dann ist es vermutlich wirklich das Erdkabel, wie wir schon befürchtet haben. Was natürlich der GAU ist, denn da muss die Straße aufgerissen werden.« Er drehte noch ein wenig an dem Kasten herum und brachte das Bild auf dem Laptop in einen unwesentlich besseren Zustand. Dann sagte er: »Gut, besser geht’s nicht, das war’s, vielen Dank, da werden wir vielleicht auch mal die Telekom kontaktieren müssen.« Er schaltete das Laptop aus und packte seine Sachen zusammen. »Ach ja«, fügte er an, während er Schraubenzieher und Handschuhe in die Werkzeugtasche einsortierte. »Darf ich fragen, wie Sie heißen und wie ich Sie erreiche, wir müssen sehr wahrscheinlich noch mal hier rein.«

      »Romanoff heiße ich«, antwortete Richard bereitwillig. »Aber ich hatte mit Herrn Steenbergen eigentlich wenig zu tun. Rufen Sie doch bitte die Nummer von der Karte an, die ich Ihnen gegeben habe. Ich selbst bin nur –«, aus den Augenwinkeln sah er, wie der junge Mann mitten im Packen gespannt innehielt, »– selten im Büro.«

      »Hm«, machte der junge Mann desinteressiert und packte fließend weiter, und Richard zweifelte sofort an seiner Beobachtung.

      Dennoch sagte er nachdenklich: »Und wie erreiche ich Sie?«

      Der junge Mann blickte auf. »Müller ist mein Name«, sagte er nüchtern, »aber rufen Sie Kabel Deutschland an. Ich gebe Ihnen unsere Karte. – Ach so ja, dann muss ich noch mal hoch auf den Speicher. Ich glaube, ich habe da meine Jacke liegenlassen.«

      Richard nahm die Karte und brachte den jungen Mann nach oben. Dort war keine Jacke. »Die wird noch bei der Frau Zangerle sein«, sagte Müller. »Ich gehe einfach hier oben herum, denn ich habe ihr sowieso versprochen, die Speichertüren zu schließen. Sie ist nicht mehr gut zu Fuß.« Er ging zum benachbarten Kabuff, brüllte hinein: »Frau Zangerle! Ich komme jetzt wieder runter!«, nickte Richard zu und schloss die Tür hinter sich. Richard ging zerstreut ins Rosenzimmer zurück. Den jungen Müller vergaß er sofort. So sehr dachte er darüber nach, wo das Laptop sein könnte.

      * * *

      Die zweite Rückkehr in Frau Zangerles Haus war nicht mehr ganz so schlimm. Müller spürte sogar das verrückte Bedürfnis, etwas mitzunehmen. Ein Souvenir. Was natürlich absolut hirnrissig war, nur Serienmörder im Film nahmen Souvenirs mit. Trotzdem verweilte er länger als nötig im Haus der alten Dame, so als ob es noch etwas Wichtiges zu tun gäbe, als ob etwas fehlte und er es irgendwie herbeibringen müsste. Fast träumerisch betrachtete er Frau Zangerles Schlafzimmer, ihr Bad – und da fiel ihm ein, dass es hier vielleicht wirklich noch etwas Interessantes

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