Müllers Morde. Monika Geier
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Müller senkte den Kopf und nahm das Kissen.
»Und ich bin schwierig«, sagte die alte Dame und kicherte fiebrig. »Das mit der Würde zum Beispiel, ich wusste immer, das krieg ich nicht hin.«
Oh doch, dachte Müller höchst aufrichtig und sah sie an und sah in blitzende, lebendige Augen, und etwas Warmes, Schleimiges landete in seinem Gesicht. Spontan würgte er: Sie hatte ihn angespuckt. Da drückte er sie endlich in die Ecke ihrer Couch, sie wehrte sich, doch herzzerreißend schwach. Er hielt ihr einfach das Kissen aufs Gesicht und presste ihren Kopf tief in die Rosshaarpolster. Diesmal musste sie wirklich sterben.
* * *
Richard kehrte mit einer Auswahl an Klinken zurück, die er im Haus gesammelt hatte, drei Stück: Eine hatte auf einer Heizung gelegen, die beiden anderen stammten aus einer Tür. Auf gut Glück steckte er eine von ihnen in das passende Loch, drückte, drückte fester, drehte am Schlüssel, prüfte noch mal, ob wirklich keine Scharniere da waren, da waren wirklich keine, also waren sie auf der anderen Seite, und die Tür musste gedrückt werden, also drückte er – und sie ging auf. Dann stand er in einem Raum, der gleichzeitig überraschend und enttäuschend war. Das Überraschende an ihm war seine Größe. Dieser Trockenboden sah nicht nur weitläufig aus, er war tatsächlich riesig. Er musste die ganze Länge der Häusergruppe einnehmen, klar: Das war ein gemeinsamer Boden, damit konnte man viel mehr anfangen, lange Wäscheleinen aufspannen, Luft zirkulieren lassen, und vielleicht hatten die Hausmädchen sich hier auf ein Zigarettchen getroffen, wenn sie Feierabend hatten. Ein schöner, dunkler Raum. Trotzdem war Richard enttäuscht von seiner Entdeckung, denn dieser ganze großartige dämmrige Boden schien völlig leer zu sein. Ein paar alte Drähte hingen tatsächlich als Wäscheleinen zwischen den Kehlbalken des Dachstuhls, vier kleine Dachfenster spendeten Licht, so dass man sich umsehen konnte, doch zu sehen war da nichts. Nur altes Holz und die Rückseite der Dachziegel und vier gemauerte kleine Kabuffs mit Türen, die allesamt aussahen, als würden sie nie, niemals geöffnet. Eine davon war sogar mit Brettern vernagelt. Es gab keine alten Truhen, keine Abseiten, nicht einmal eine Dämmung, hinter die man irgendetwas Kostbares hätte stopfen können. Der Raum war einfach leer. Richard suchte noch ein wenig und fand in einer Ecke ein altes Handtuch mit einer gruselig vermoderten Babypuppe darin, dann gab er auf. Er ging zurück in Steenbergens Rosenkabuff, schloss die Tür hinter sich, ließ Schlüssel und Klinke für die Nachwelt stecken, drückte sich wieder an den nicht umfassend untersuchten Papierstapeln vorbei und setzte sich im Wohnzimmer auf die Ledercouch. Es war schon Abend, und er hatte nichts erreicht. Jedes einzelne seiner hundert Kilos drückte ihn schwer auf das kühle Leder. Von draußen hämmerte Regen gegen das Glasdach des Wintergartens. Richard seufzte. Er traute Steenbergen nicht zu, ermordet worden zu sein. An dem Typen war doch kaum was dran, der war nur brillant in seinem Fach gewesen, und vielleicht noch in Einrichtungsfragen, aber ebenso gut konnte es sein, dass hier eine typische Junggesellennotmöblierung zufällig in ein Haus geraten war, dem gerade das hervorragend stand. Und sonst? Der Nachlass enthielt keine Sportutensilien, keine Filmsammlung, keine Spur eines Zeitungsabonnements, keine nennenswerte Bibliothek. Wahrscheinlich hatte Steenbergen nicht mal eine Meinung besessen. Was sollte er da ausrichten? Phil-Collins-Alben auf satanische Botschaften abhören? Sich ins konservative Umweltmanagement einarbeiten? Steenbergens unverständliche Doktorarbeiten entschlüsseln? Richard gähnte. Das Geräusch der fallenden Tropfen auf den Fenstern machte ihn schläfrig. Es war düster im Raum. Steenbergens Couch war erstaunlich bequem. Wenn man das blöde Leder erst einmal warm gesessen hatte, mochte man gar nicht mehr aufstehen. Richard schloss die Augen. Er war hungrig. Er würde jetzt heimfahren, sich eine große Portion ökologisch nicht korrekt angebauter Ofenpommes reinziehen und abends Dr. House gucken. Hier gab es nichts zu holen, und zu Hause hörte man die Schritte der Nachbarn im Stockwerk darüber zwar viel lauter, aber es war warm und es –
Richard war plötzlich hellwach.
Schritte!
Er lauschte angestrengt. Er saß reglos. Er schloss die Augen, um besser zu hören. Er atmete kaum.
Das Geräusch wiederholte sich nicht.
Nach einer endlosen Weile, in der es nur einfach immer weiter geregnet hatte, stand Richard auf. Da war etwas gewesen, nicht nur ein Geräusch, sondern eine charakteristische Abfolge, ein: Laufen. Es mochte eine Täuschung gewesen sein oder ein Tier, aber er musste dem nachgehen.
So lautlos das auf dem alten Parkett möglich war, schlich Richard zum Treppenhaus. Das Geräusch war von oben gekommen. Jemand war im Haus. Jemand, der vermutlich nicht ahnte, dass er Gesellschaft hatte, denn von außen konnte niemand sehen, dass Richard sich im Haus aufhielt, die Lichter waren aus, und es stand kein Auto draußen. Langsam bewegte er sich auf die Treppe zu. Eine Waffe. Sollte er nicht eine Waffe haben? Da hörte er es wieder, diesmal deutlicher: Schritte. Schwere Schritte. Ein Klopfen. Und es kam bestimmt nicht aus dem ersten Stock, dazu war es zu leise. Die Schritte und das Klopfen mussten von ganz oben, vom Dachboden kommen.
* * *
19.10 Uhr
Er stand in Steenbergens Haus. So leicht war das gewesen: einfach nur in der Nachbarschaft klingeln und auf den Speicher marschieren. So furchtbar leicht. Müller schluckte und schritt Steenbergens Speicherteil ab. Er hatte einen Lichtschalter gefunden, ein altes Drehding, und nun betrachtete er alles ganz genau im Licht einer funzligen Glühbirne. 17c besaß einen Zugang zum großen Gemeinschaftsboden, eine hölzerne Tür. Müller klopfte ihren Rahmen ab und begutachtete das Schlüsselloch. Soweit er das sehen konnte, steckte der Schlüssel auf der anderen Seite. Und der Spalt unter der Tür war recht breit. Mit etwas Glück würde der alte Trick mit der Zeitung und dem herausgestoßenen Schlüssel hier funktionieren. Wenn nicht, würde sich ein anderes Hilfsmittel zum Öffnen finden. Müller sah sich um: Natürlich war weit und breit keine Zeitung auf dem Speicher, auch in seiner Werkzeugtasche nicht. Aber die gute alte Frau Zangerle, die würde eine haben. Müller zögerte ein wenig. Er ging nicht gern wieder runter in ihre Wohnstube. Doch er brauchte die Zeitung. Er musste.
* * *
Richard betrat die kleine Kammer und abermals überwältigte ihn der Eindruck von Enge. Er holte tief Luft, um die Beklemmung abzuschütteln, dann stand er und lauschte. Da war nichts. Nur der Regen tropfte gleichmäßig auf das blinde Glas des Dachfensters und färbte sich blutrot im Widerschein der schrecklichen Tapete. War da wirklich jemand auf der anderen Seite? Und wenn ja, war das so ungewöhnlich? Schließlich konnten alle Nachbarn jederzeit auf den alten Trockenboden gehen, sich dort treffen und Schwätzchen halten. Doch Richard glaubte das nicht. Der Boden hatte verlassen ausgesehen, seit Jahrzehnten ungenutzt. Er dachte an die vermoderte Puppe und an die mit Brettern vernagelte Tür. Und war da nicht ein gespanntes Lauschen von jenseits der Wände?
Wenn man wusste, wie unheimlich groß der Raum auf der anderen Seite war, dann gewannen die Rosenranken der Tapete tatsächlich eine neue Qualität, eine Art perverse Schutzfunktion. Das Mädchen, das einst in diesem Zimmer leben musste, hatte sich vor dem riesigen dunklen Speicher gefürchtet, kein Zweifel. Denn dort auf dem Speicher mochte alles Mögliche herumspuken, dort konnten die Hausherren aus der Nachbarschaft erscheinen und Einlass erzwingen, von dort aus konnte man belagert, belauert und belauscht werden. Und vielleicht geschah das sogar gerade jetzt. Vielleicht presste in diesem Moment jemand sein Ohr gegen die Tür, vielleicht an genau der Stelle, wo Richard nun seins gegen die Tür presste, natürlich von der anderen Seite. Vage dachte Richard daran, dass er kürzlich gelesen hatte, Ohrabdrücke seien ebenso individuell wie die Fingerabdrücke eines Menschen, dann meinte er, ganz in der Nähe Schritte zu hören. Tatsächlich. Er war fast erleichtert. Solide, feste Schritte. Nichts