Wu. Frank Rudolph

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Wu - Frank Rudolph

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brannte, war seine Wahl richtig. Es gab keine Zuschauer, und es war ruhig. Meister Li saß in einem Stuhl und sagte manchmal tagelang nicht ein Wort zum Training. Die Übungen waren eintönig, aber niemals langweilig.

      Foto 23: Eine halbe Stunde im Handstand ist ein normaler Trainingsinhalt im traditionellen wushu.

      Foto 24: Liegestütz im Handstand. – Wenn man sich beim Training nicht genug anstrengt oder die Übungen nicht schafft, kann es sein, dass ein chinesischer Meister entweder böse dreinblickt oder verächtlich lächelnd auf einen herabschaut. Anfeuerungsrufe, Motivationsreden oder Lob wie beim westlichen Sporttraining von Seiten des Trainers wird es kaum jemals geben.

      Der shifu ist kein Trainer im westlichen Sinne, kein Motivator und nicht dafür zuständig, den Schüler in kürzester Zeit bestmöglich auf einen Wettkampf vorzubereiten. Er ist ein Wegweiser, der durch das Beispiel seines Lebens den Weg zeigt, welchen man schließlich selbst gehen muss. Nach chinesischem Brauch lobt ein shifu seine Schüler niemals, wie gut sie auch sein mögen. Ebenso wenig duldet er Widerspruch. Dem Schüler ist es auch nicht gestattet, Emotionen zu zeigen. Ich weiß, das klingt alles sehr nach verlebter Tradition. Mein shifu und ich haben dabei auch viele Abstriche gemacht, damit es für uns funktioniert. Mir als Europäer liegt es in der Natur, Dinge kritisch zu betrachten. Gefühle wie Unzufriedenheit und Ärger werden ausgedrückt und auch ausgelebt. Ich widerspreche und hinterfrage, wenn es mir erforderlich scheint. Anfangs prallten da buchstäblich zwei Welten aufeinander. Meister Li tat sich in der ersten Zeit sehr schwer damit, was dreimal in Gestalt denkwürdiger Wutausbrüche zum Ausdruck kam, bei denen ich mich am liebsten zu den Ratten ins Loch verkrochen hätte. Später wandelte sich die Situation erstaunlicherweise. Meister Li gewöhnte sich an mein westliches Wesen und stellte fest, dass das offene und freie Denken und das Einbringen von Kritik sehr produktiv genutzt werden kann.

      Allerdings nahm ich durch das Leben im Reich der Mitte und den täglichen Umgang mit Chinesen immer mehr die chinesische Denkweise an und entwickelte zunehmendes Verständnis für die Vielschichtigkeit der chinesischen Kultur. So akzeptierte ich nach und nach wortlos auch Sachen, die ich als falsch empfand. Ein Beispiel: Meister Li ist ein leidenschaftlicher Majiang33-Spieler. Spielt er mit seinen Freunden, vergisst er darüber alle Abmachungen und Versprechungen. In Europa wäre ein solches Verhalten gänzlich inakzeptabel, aber in China wird sich ein Meister nicht einmal dafür rechtfertigen.

      Diese Sicht der Dinge hängt mit der Lehre des Kongzi (Konfuzius)34 zusammen. Alle Lebensbereiche sind hierarchisch gegliedert und folgen bis heute den Gesetzen dieser etwa 2 500jährigen Philosophie. Schüler gehorchen ihren Lehrern aufs Wort, die Jungen respektieren die Alten, und die Alten kümmern sich um die Jungen. Im Chinesischen gibt es das Schriftzeichen xiao (孝), das soviel wie Kindespflicht bedeutet. In der chinesischen Gesellschaft sagt man: »Mit einem Menschen, der kein xiao hat, sollte man keine Freundschaft schließen, weil das Wesen dieses Menschen schlecht ist.« Es ist in vielen Teilen des Landes immer noch undenkbar, dass eine Familie die Eltern bzw. Großeltern in einem Altenheim unterbringt, wie gut dieses Heim auch sein möge. Der gesellschaftliche Druck wäre groß und würde sich vielleicht sogar in öffentlichen Beschimpfungen ausdrücken. Die Familie würde verachtet und gemieden werden, selbst wenn sie einfach zu arm wäre, um die Eltern betreuen zu können. Einen solchen Vorfall erlebte ich in meiner Wuhaner Nachbarschaft. Ein Mann schaffte es aus zeitlichen Gründen nicht mehr, sich um seine Mutter zu kümmern. Er brachte sie in einem guten Pflegeheim unter. Von Stund an hatte er unter den uralten konfuzianischen Vorstellungen von Pietät und Sohnespflicht zu leiden. Im wushu verstärkt sich das ganze noch. Ein Schüler wird von der Gesellschaft nicht danach beurteilt, wie gut er ist, sondern wie gut er seinen Lehrer behandelt und sich um ihn kümmert. Während der aus der westlichen Kultur stammende Aristoteles sagte: »Ich liebe meine Lehrer, aber noch mehr liebe ich die Wahrheit«, gilt in China eher: »Der Lehrer hat immer recht, auch wenn er nicht recht hat.«

      Ich selbst habe zu der Lehre des Kongzi niemals einen Zugang gefunden. Ich halte den Daoismus für wesentlich praktischer. Zwar hat der Konfuzianismus dem Reich der Mitte eine einzigartige Position in der Weltgeschichte verliehen, doch war er letztendlich für den Sturz der Monarchie verantwortlich.35 In den Epochen, in denen sich die Kaiser dem Daoismus zuwandten (z. B. Tang-Dynastie) glänzte China durch seine Offenheit und Liberalität. Das Land erblühte dann in unglaublicher Stärke.

      Mein Lehrer unterhielt sich oft mit mir über solche Dinge. Ich fand es sehr erstaunlich, dass Meister Li auch im Alter von 55 Jahren noch bereit ist dazuzulernen und Vorurteile fallenzulassen. So kamen wir beide zu der Erkenntnis, dass es ein natürliches Geben und Nehmen zwischen Lehrer und Schüler geben sollte. Der Lehrer, der den Schüler unterdrückt und ständig nur fordert, ist nicht besser als der Schüler, der nach seiner Lehrzeit seinen Lehrer nicht mehr kennen will. Gleichwohl muss der Schüler bestrebt sein, die Grenzen des Meisters zu überwinden.

      Diese Problematik war früher auch im Westen bekannt. Leonardo da Vinci36 meinte einst: »Der ist ein schlechter Schüler, der seinen Meister nicht überflügelt.« Zum Thema Respekt hat Zhuangzi sich vor 2 500 Jahren auf kluge Weise geäußert:

       Wenn man über Respekt nicht spricht und er nicht erwähnt wird, dann ist Respekt vorhanden. Wird jedoch von Respekt gesprochen, wird er verlangt oder sich darauf berufen, oder wird erwähnt, wie sehr man jemanden respektiert, dann heißt das, dass es auch Respektlosigkeit gibt. Wenn man nämlich den Respekt betont, dann bedeutet das, dass es etwas Besonderes ist, und besondere Dinge sind immer selten. In der Natur, im Leben und in der Wissenschaft entsteht alles aus einem relativen Zusammenhang, so dass sich der Respekt erst aus der Respektlosigkeit bildet und umgekehrt. Somit ist wahrer Respekt erst vorhanden, wenn nicht darüber gesprochen wird.

      Im alten China gab es bei einigen Kampfkunststilen den Brauch des baishi (拜师), der Bitte, von einem Meister als Schüler angenommen zu werden. Dabei muss man auf die Knie sinken und den shifu um Aufnahme in die Schule bitten. Diese Tradition ist eine rituelle Demutsbezeugung, ähnlich dem kotau37. Sie ist konfuzianischen und teilweise buddhistischen Ursprungs. In anderen Kampfkunststilen, vor allem in den daoistisch beeinflussten, wird diese Geste abgelehnt. Meister Lis Lehrer glaubten nicht an das baishi. Sie verlangten es auch nicht, genauso wie es Meister Li auch nicht von mir oder von anderen seiner Schüler verlangte.

      Die Kultur des wushu und aller anderen Kampfkunstarten ist sehr umfassend. Alles darin hat seinen Platz und seinen Sinn, auch wenn vieles hinterfragt werden kann. Die heutigen weltweiten Kampfkunstverbände haben nichts mehr mit dieser Kultur gemein. Ein Verband oder eine Schule ist ein Betrieb. Es geht ums Geldverdienen. Der Schüler ist kein Schüler, sondern in erster Linie ein Kunde, an dem man eine Dienstleistung verrichtet. Durch diese Situation geht leider viel von der Kampfkunstkultur verloren. Einer der letzten echten Meister Chinas, Chen Chongxi, sagte einst in meinem Beisein zu meinem Lehrer: »Die Menschen heutzutage verstehen nichts von der Kampfkunst. Schau dir einmal diese ganzen Typen an, die heute irgendwo trainieren, in Schulen, in Verbänden usw. Was wissen die schon über Kampfkunst? Ich fuhr damals eine ganze Nacht mit dem Zug, ohne Sitz oder Bett, nur um meinen Lehrer zu besuchen und ein wenig Unterricht zu bekommen, und danach gleich wieder zurück.« Auch wenn diese Sätze nach dem typischen Gerede der alten Generation klingen, stimmen sie in diesem Fall. Einige Biographien belegen manchmal sehr dramatisch, unter welchen Umständen die Schüler früher oft lernen mussten.

      Auch der wahrscheinlich letzte echte Erbe des ninjutsu (忍術), Hatsumi Masaaki38, musste riesige Entfernungen zurücklegen, um etwas von seinem Lehrer lernen zu können. Somit war jede Minute Lehrzeit etwas besonders Kostbares. Kaum jemand würde heutzutage noch solche Mühe auf

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