Wu. Frank Rudolph
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Als ich einmal mit meinem Wushu-Bruder, Cheng Jianping, bei dem bekannten Shaolin-Meister Shi Deyang (释德扬) zu Besuch war, versuchten wir, ihn mit Fragen aus der Reserve zu locken. Er kannte uns nicht und wusste auch nicht, wer unser Meister war. Wir hatten es nicht auf irgendwelche Sachen abgesehen, wie Shi Deyang sie gern im Fernsehen demonstrierte. Wir wollten sein wirkliches Wissen, seine Techniken und Kampfprinzipien. – Später gesellte sich Meister Li hinzu. Shi Deyang erhob sich und bot ihm einen Platz an. Während der Unterhaltung erfuhr der Mönch, dass Cheng Jianping und ich Schüler von Meister Li waren. Meister Shi gefiel es überhaupt nicht, dass wir so ahnungslos getan hatten. Er fühlte sich zu Recht hintergangen. Von diesem Augenblick redete er mit Cheng nur noch sehr wenig und mit mir überhaupt nicht mehr. Als Ausländer durfte ich mir noch viel weniger herausnehmen als mein Wushu-Bruder.
Andere Meister hingegen, wie mein eigener shifu oder auch der Xingyi-Meister Wu (吴老师) aus Shandong, die technisch sogar ein höheres Niveau haben als Shi Deyang, sind bei weitem nicht so verschlossen wie dieser.
Wie gesagt, was wir bei Meister Shi Deyang taten, war und ist nichts Ungewöhnliches. Selbst hoch verehrte und geachtete Größen wie Meister Ai (艾师父) oder Meister Zhang Kejian (siehe S. 138 ff.) sind sich nicht zu schade für diese Art der Bereicherung ihres Repertoires. Meister Zhang wird von vielen sogar als pantu (叛徒, Verräter) bezeichnet, da er sich wirklich oft am Wissen anderer Meister bediente.
In den alten Tagen des wushu wurden die eigenen Kenntnisse wie ein Schatz gehütet. Das galt aber nicht nur für China. Auf Okinawa, Hawaii, den Kanaren oder den Philippinen trainierte man im Geheimen, da jede Ausübung einer Kampfkunst strengstens verboten war. Überall dort, wo ein Volk ein anderes zu beherrschen sucht, ist es eine Notwendigkeit, sein eigenes Wissen zu schützen und gleichzeitig Kampftechniken vom Gegner zu übernehmen. Wenn es hart auf hart kam, hatte man nur sein Wissen und sein Können, um sich zu verteidigen.
Von Meister Zeng Tianyuan ist überliefert, dass er einmal einen Kämpfer heimlich beim Training beobachtete. Er studierte dessen Technik, und als er dann beim dalei (打擂), einem Kampf ohne Regeln (siehe S. 99 ff.), auf ihn traf, konnte er ihn sehr schnell töten.
Es geht natürlich nicht immer um Leben und Tod. Oft will der »Spion« einfach nur lernen. So wurde der Diener Yang Luchan21 von seinem Arbeitgeber Chen Changxing22 als Schüler akzeptiert, nachdem sich Chen davon überzeugt hatte, dass Yang durch heimliches Beobachten schon tief in die Geheimnisse des Familienstils (chen taiji) eingedrungen war.
Ganz ähnlich klingt eine Geschichte aus dem yongchunquan (詠春拳). Chan Wahshun23, ein Geldwechsler, liebte die Kampfkünste sehr. Neben seiner Wechselstube unterrichtete Meister Leung Jan24 einige Schüler. Chan pflegte den bekannten Lehrer heimlich durch ein Loch in der Wand zu beobachten. Nach einem Vergleichskampf mit einem der Söhne des Meisters nahm Leung Jan den Geldwechsler als Schüler an. Sehr ähnlich ist auch die Geschichte von Motobu Choki25 und seinem Lehrer Matsumora26 .
Heute spielt so etwas sicher nicht mehr eine solch große Rolle, doch die alten Lehrer haben das noch kennengelernt. Meister Li lernte oft viele Monate lang nur eine einzige Technik. Dafür musste er seinen Lehrer versorgen, sich um ihn kümmern, und das rund um die Uhr. Viele der alten Meister haben das gleiche durchmachen müssen. Es ist also kein Wunder, dass sie auch heutzutage nicht dem Erstbesten Informationen über ihren Stil und ihre Technik geben.
zhi you gong fu zhen, tie bang mo cheng zhen
Nur wenn das Gongfu echt ist, schleift sich der Eisenstab zu einer Nadel.
Geschichten vom Gongfu
Die Essenz des wushu ist das gongfu (功夫). Das mag für westliche Ohren befremdlich klingen, hat man sich doch sehr an den Begriff gongfu bzw. kungfu als Bezeichnung für die chinesische Kampfkunst gewöhnt. Gongfu ist jedoch kein Stil und keine Kampfmethode. Es ist auch nicht der Oberbegriff für alle Kampfarten Chinas. Bis heute zeugt die Verwendung dieses Wortes von einem großen Unverständnis der chinesischen Kultur gegenüber. Ein wenig haben wir das dem »Kleinen Drachen«, Bruce Lee27, zu verdanken, der den Begriff gongfu allgemein bekannt machte. Allerdings gebrauchte er ihn in seinem tatsächlichen Sinne. Letztendlich passte er sich den pragmatischen Menschen der westlichen Welt an, für die es damals zu umständlich war, zwischen den Feinheiten der fremden Begriffe zu unterscheiden. Daher ist eine Richtigstellung heute sehr schwierig.
Allgemein wird gongfu mit harter Arbeit übersetzt. Diese Deutung ist jedoch nicht ganz vollständig. Es ist auch ein zeitlicher Begriff und bringt zum Ausdruck, dass man sich erst nach langer Zeit und durch harte Arbeit bestimmte Fähigkeiten aneignen kann und sich nur allmählich körperlich und geistig weiterentwickelt. Daher ist gongfu nicht nur die Essenz des wushu, sondern die des Lebens im allgemeinen. Ob nun Kampfkunst, Malerei oder Musik, alle Aktivitäten des Menschen erfordern gongfu, Zeit und harte Arbeit. Schon Platon verwies darauf, dass die Jugend unter anderem bei ihren Leibesübungen beharrlich bleiben und nicht ständig Neuem hinterherjagen sollte, nur weil es neu sei. Im Chinesischen sagt man beispielsweise: »Ta de gongfu hen hao« (他的功夫很好). –»Sein gongfu ist sehr gut.« Dieser Ausspruch, den es ähnlich auch in Japan gibt, bezeichnet die langjährige und mühevolle Hingabe an eine Sache. Aus diesem Grund ist es nicht möglich, gongfu in der Jugend zu erlangen. Sicher, es gibt Talent, doch Talent ist nur ein Teil des Ganzen. Zu seiner Entwicklung bedarf es Zeit.
Hier liegt auch der Unterschied zum Wettkampfsport. Eine sportliche Karriere ist sehr schnelllebig und wird oft durch die Jagd nach Erfolgen und Geld bestimmt. Viele Sportler werden dadurch zum Doping getrieben, was letztlich zur Zerstörung des eigenen Ichs führt. All dies hat nichts mit wushu und mit gongfu zu tun.
Eine kleine Anekdote verdeutlicht das Wesen des gongfu sehr gut. Sie hat zwar mit den Kampfkünsten nichts zu tun, doch man erkennt an ihr die Universalität des hier Gesagten.
Adolph Menzel und die Vignette
Für ein von ihm illustriertes Werk fertigte Adolph Menzel vor den Augen des Verlegers eine Vignette an. Zweiundfünfzig Taler forderte er für seine Arbeit.
»Was, zweiundfünfzig Taler, für zwanzig Minuten Arbeit? Das scheint mir denn doch etwas zuviel«, rief der Verleger aus. Doch Menzel blieb dabei.
»Mein Lieber, um diese Vignette in zwanzig Minuten zeichnen zu können, habe ich siebzig Jahre meines Lebens als Lehrzeit nötig gehabt.«
In China gibt es schier unzählige Geschichten, die sich direkt oder indirekt mit der Thematik befassen, und das schon seit Tausenden Jahren. Zwei davon habe ich für dieses Kapitel ausgewählt. Die erste Erzählung ist eine der bekanntesten und aussagekräftigsten über das gongfu. Sie stammt aus den Wudang-Bergen und verdeutlicht wie kaum eine andere mit einfachen Worten das, worum es hier geht. Es ist die Legende von Taizi (chin. Prinz, 太子), dem späteren Kaiser Zhen Wu (真武), und der Nadelschleiferin.
Der Prinz und Nadelschleiferin
Bereits in jungen Jahren war Taizi des Wohllebens überdrüssig, und er sehnte sich nach geistiger Reife. Im Alter von 14 Jahren, als er seine Unruhe nicht mehr beherrschen konnte, verließ er den Palast, um sich in die Abgeschiedenheit