Wu. Frank Rudolph

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Wu - Frank Rudolph

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nicht jeder Europäer die einzelnen Schulen unterscheiden und beurteilen können. Aber er hat dazu wahrscheinlich einen stärkeren Bezug als zur Unergründlichkeit des chinesischen wushu. Es gibt im Fechten mindestens fünf verschiedene Gruppen, die sich teilweise überschneiden, ohne sich gegenseitig zu stören. Diese sind: 1. Reenactment, bei dem mehr oder weniger professionell historische Kämpfe oder gar Schlachten nachgestellt werden, 2. Bühnenkampf (stage combat), wie er hauptsächlich im Theater zur Geltung kommt, 3. Sportfechten, 4. historisches Fechten, bei dem man sich ernsthaft um die alten Techniken bemüht und 5. das so gut wie ausgestorbene Duellfechten. All diese Gruppen haben Berührungspunkte, aber kein Bühnenfechter käme beispielsweise auf die Idee, mit seiner Technik ein reales Duell bestreiten zu wollen. Das westliche Fechten hat sich trotz all seiner Aufspaltungen viel homogener erhalten und ist auch in seiner sportlichen Form auf eine praktische Anwendung ausgerichtet. Dieses Merkmal zeichnet übrigens auch die waffenlosen Kampfkünste des Okzidents aus. Wie es aussehen würde, wenn ein Fechtmeister seine Kunst mit Elementen aus der Oper würzen wollte, bleibt unserer Phantasie überlassen.

      Szene aus einer chinesischen Oper. Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert.

      Doch zurück zum Thema. Während der Kulturrevolution entwickelten Wushu-Professoren, u. a. unter der Leitung von Wen Jingming, die sogenannte guidingquan (规定拳), eine festgelegte Faustform des neuen wushu. Mit dieser Form ist Jet Li13 All China Wushu Champion geworden. Diese guidingquan enthält bereits Elemente der chinesischen Oper. Wen Jingming erforschte diese Form wissenschaftlich und fand heraus, dass es, wenn man sie von Anfang bis Ende läuft, hinsichtlich der körperlichen Leistung so ist, als würde man einen 8 000-Meter-Lauf mit sehr hoher Geschwindigkeit absolvieren.

      Ich selbst trainierte diese Form ganz zu Anfang meiner Zeit in China. Meister Li ließ sie mich üben, obwohl ich damit nicht einverstanden war. Nach einer Weile hatte ich genug. Ich erklärte Meister Li, dass ich mir für diese Art des wushu zu schade sei. Ich kam mir veralbert vor. Anfangs war Meister Li nicht sehr froh, dass ich ihm meine Meinung so offen sagte. Er antwortete, dass ich für die »richtigen Sachen« noch nicht das nötige jibengong (基本 功)14 hätte. Natürlich braucht man für die guidingquan auch gewisse Grundlagen, und man muss schon ein guter Athlet sein, um sie zu meistern, aber für die traditionellen Formen braucht man eben noch ein bisschen mehr. Man benötigt explosive Kraft (baofali), während man in den modernen Formen mit seinen Techniken mehr »malen« (画拳) wird. In den alten Formen gibt es Anwendungen, in den neuen Formen wird darauf nicht mehr eingegangen. So trainierte ich in der Folge drei Jahre traditionelles jibengong und ließ das aus meiner Sicht fruchtlose Guidingquan-Training weg.

      Später kam ich dann endlich in Berührung mit der Adlerfaust (yingquan) usw., also zu den interessanten Sachen neben dem baguazhang, welches ich von Anfang an trainieren konnte. Es dürfte nur wenige Nichtasiaten geben, die im baguazhang eine ähnlich gute Ausbildung genossen haben wie ich bei Meister Li. Dies bestätigten auch andere Meister, die mitunter beim Training zuschauen kamen. Manche von ihnen sagten, selbst Chinesen würden nur noch selten diese Art des baguazhang beherrschen. Auch das ist ein Tribut an die neue Zeit.

      In China habe ich sowohl in der Sportuniversität15 trainiert, wo chinesisches wushu als Fach vertreten ist, als auch im staatlichen Profiverband. Dort traf ich einige der besten heutigen Sportler des »wushu«. In diesem Verband wird das Training von sehr jungen Trainern geleitet, wobei die älteren Schüler dann wiederum die jüngeren Schüler anleiten. Die blühende Phantasie der jungen Trainer führt z. B. dazu, dass Breakdance in die ohnehin schon veränderten Formen integriert wird. Im hinteren Büro sitzen eventuell einige alte Lehrer, die darüber lachen und sagen, dass man sie machen lassen soll. Das ist bedauerlich, denn nur die Alten könnten diesen Verfall stoppen.

      Die heutigen Wushu-Formen, von denen jedes Jahr immer wieder neue entwickelt werden, sind inhaltslos, ohne jede Bedeutung, so dass eigentlich jeder Turner oder Breakdancer interessantere Bewegungsformen entwickeln könnte. Wohin solch eine Entwicklung führen kann, sieht man im amerikanischen System Extreme Martial Arts (XMA)16. Zugegeben, sowohl die XMA-Artisten als auch die Kampfsportler demonstrieren oft eine beeindruckende Körperbeherrschung, wobei sich diese beiden Richtungen immer mehr annähern. Sie bewegen sich anmutig und virtuos, was man von den kampforientierten Wushu-Meistern nicht immer sagen kann.

      Ohne jede Beschönigung muss gesagt werden, dass das »moderne« wushu nichts weiter als Gymnastik bzw. Akrobatik ist, was auch zur Folge hat, dass nur junge Leute die »Techniken« ausführen können.

      Das alte und kampfbezogene wushu kennt keine Altersgrenze. Es steht in keiner Konkurrenz zu irgendwelchen anderen Systemen. Die Meister testeten die Techniken oft in realen Szenarien, wobei sie meist mehr als nur einige Kratzer davontrugen. Es ist ziemlich respektlos, dieses Erbe einfach beseitigen zu wollen. Die Rede ist hier von einer lebendigen Tradition, die immer noch ihre Gültigkeit besitzt.

      Ich kann nicht leugnen, dass ich kein Anhänger der »Versportlichung« bewährter Kampfkünste bin. Ich habe mich davon überzeugen können, dass dieses Verbessern- oder Verändernwollen den Kampfkünsten von jeher mehr geschadet als genützt hat, getreu dem Sprichwort: »Wenn etwas nicht kaputt ist, repariere es nicht.« Diese Erkenntnis beruht auf meinen persönlichen Erfahrungen in ganz unterschiedlichen Schulen wie dem Karate, Boxen, Ringen und nun dem wushu. Jedoch geht es mir keineswegs darum, Turniere und Wettkämpfe schlechtzumachen. Beide haben ihren Sinn und positive Auswirkungen. Sie bringen Menschen zusammen und lassen Bekanntschaften und sogar Freundschaften entstehen. Ich selbst habe mit durchschnittlichem Erfolg schon an dem einen oder anderen Formenwettkampf oder Kampfwettbewerb teilgenommen und dadurch neue Freunde und Bekannte gewonnen. Man vergleicht und misst sich mit anderen, ohne dabei böse Absichten oder Gefühle zu haben. Olympische Spiele oder Weltmeisterschaften spielen in der heutigen Welt eine wichtige Rolle. Durch diese Wettkämpfe können wir unsere Stärke vergleichen, ohne dem Gegenüber feindlich gesonnen zu sein. Das bedeutet letztendlich Konfliktvermeidung durch Sport. Das hat auf jeden Fall etwas für sich.

      Anzumerken ist auch, dass die Sportrichtungen den Körper ruinieren. Sie sind verheerend für die Gelenke, besonders für Knie und Rücken. So trägt jeder Wushu-Profi irgendwelche Bandagen oder Stützen, um seine kaputten Gelenke zu schützen, und das, obwohl die meisten von ihnen erst um die Zwanzig sind. Ist das Kampfkunst, ist das gongfu? Nein, denn im wushu geht es darum, durch geeignete Trainingsmethoden zu einem starken Körper zu gelangen, den man durch gute Techniken im Notfall schützen kann und der seine Gesundheit bis ins hohe Alter behält.

       quan wu quan, yi wu yi, wu quan wu yi shi zhen yi

      Faust ohne Faust, Sinn ohne Sinn –

      ohne Faust, ohne Sinn ist der wirkliche Sinn.

Modernes und altes Wushu

      Das wushu erfreut sich heute einer so großen Popularität wie nie zuvor. Das gilt auch für China. Paradoxerweise schrumpfen gleichzeitig die Zuschauerzahlen bei den Wushu-Wettkämpfen. Mittlerweile sind dabei mehr Sportler als Zuschauer anwesend. Selbst das chinesische Volk lehnt das moderne wushu großenteils ab. Das war früher undenkbar. Einst drängten sich die Leute in den Hallen auf den Zuschauerplätzen, nur um einen Meister des wushu bei der Ausübung seiner Techniken zu sehen. In den 50er und 60er Jahren waren die Veranstaltungen ausverkauft, wenn dort alte chinesische Meister ihre Fähigkeiten demonstrierten. Die Frage ist, wie lange es noch Menschen geben wird,

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