Wu. Frank Rudolph
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wan bian bu li qi zong
Etwas wird hundertmal abgewandelt,
ohne wesentliche Veränderungen.
Begriffe und Bedeutungen
Es ist immer schwierig, komplexe Begriffe von einer Sprache in die andere zu übertragen, vor allem dann, wenn die dahinterstehenden Kulturen sich bedeutend unterscheiden. Dies gilt auch für den Begriff wushu (武 术)3, der in der chinesischen Sprache alles Kämpferische umfasst. Wushu bezieht sich allgemein auf die kämpferischen Fertigkeiten, seien sie nun militärisch oder zivil. Der Begriff schließt das Training einer bestimmten Technik ebenso ein wie einen komplexen Stil. Er unterscheidet nicht zwischen waffenlosem und bewaffnetem Kampf. Auch die Pflege von Körper und Geist gehört dazu. Dies allerdings auf andere Art, als man im Westen oft glaubt; es geht dabei nicht im geringsten um irgendwelche esoterische Konzepte. Was im Okzident als wushu bezeichnet wird, ist den echten Meistern Chinas fremd.
Der Begriff wushu ist zwar alt, doch wurde er erst nach der Gründung der Volksrepublik China im Jahre 1949 als Oberbegriff für alle chinesischen Kampfkünste gewählt. Davor gab es mehrere Bezeichnungen für die Kampfkunst, und wushu wurde hierfür sehr selten benutzt. Statt dessen verwendete man Begriffe wie wugong (武功), wuji (武击) oder auch einfach nur guocui (国粹).
Bevor ich etwas näher auf die alten Bezeichnungen eingehe, möchte ich das Wesen der Kampfkunst anhand der entsprechenden chinesischen Zeichen für wushu erklären. Das Wort setzt sich aus zwei Schriftzeichen zusammen, wu (武) und shu (术 oder 術). Wu bedeutet militärisch, kämpferisch. Es verweist auf etwas Grundlegendes, den Kampf. »Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König«, meinte Heraklit schon vor 2 500 Jahren, und der Römer Seneca erkannte: »Vivere militare est.«–»Leben heißt kämpfen.« In China lassen sich all diese Feststellungen durch das Zeichen wu ausdrücken. Aber wu besitzt noch eine viel tiefgründigere Bedeutung. Zunächst einmal setzt sich das Schriftzeichen wu ebenfalls aus zwei Zeichen zusammen. Das erste von ihnen heißt zhi (止) und bedeutet aufhören, eine Sache stoppen oder beenden. Das andere, ge (戈), bezeichnet eine alte Kriegswaffe, ähnlich unserer Hellebarde. Sie steht hier stellvertretend für Krieg. Und dieser Krieg soll durch einen entschlossenen und schnellen Kampf beendet werden. Dies bringt, vordergründig betrachtet, wu zum Ausdruck. Tatsächlich ist die Botschaft viel subtiler. Sie besagt, man solle aufhören die Hellebarde zu benutzen, ihren Einsatz beenden (zhidong ge, 止动戈). Jeglicher Kampf ist zu vermeiden. Das ist die tiefere Bedeutung des Zeichens wu. Interessanterweise wird diese Haltung durch die Figur des Kriegsgottes, Guandi (Guan Yu), ausgedrückt, den man oft in Asia-Restaurants sehen kann. Dieser Guandi hält seine Hellebarde (ji, 戟 oder ge, 戈) in den meisten Fällen halb auf dem Rücken und drückt damit aus, dass er einen Kampf vermeiden möchte.
Solch eine Philosophie wird jeder verstehen, der sich ernsthaft mit den Kampfkünsten befasst, egal ob sie aus dem Osten oder aus dem Westen stammen. Die Kampfkünste lassen den Menschen durch eine Lehre gehen, in welcher er sich mit seinen Urinstinkten, mit dem Kampf ums Überleben, beschäftigt. Durch den Reifeprozess, der während des jahrelangen Trainings eintritt, wird der Übende früher oder später auf das Paradoxon stoßen, dass er um so mehr üben muss, je weniger er kämpfen will. Aber er kann auch zu der Erkenntnis gelangen, dass es generell unnötig und sinnlos ist zu kämpfen. Im Werk des großen Militärstrategen Chinas, Sunzi4 (孙子), steht der Satz: »Bai zhan bai sheng, fei shan zhi san zhe ye; bu zhan er qu ren zhi bing, shan zhi shan zhe ye.« (百战百胜,非善之善者也,不 战而屈人之兵,善之善者也) –»In allen Schlachten zu siegen ist nicht die größte Leistung; die größte Leistung ist, den Widerstand des Feindes ohne Kampf zu brechen, zu siegen, ohne zu kämpfen.«
Das Land des Gegners wird also, wenn möglich, intakt eingenommen. Ist ein Konflikt unvermeidbar, so ist diese Lösung für alle Beteiligten die beste. Die Taktik der verbrannten Erde ist auch für den Sieger von Nachteil. Und wie schnell die Anwendung brutaler Gewalt zur eigenen Niederlage führen kann, beweist die Geschichte in unablässiger Folge. In China waren Kriegs- und Kampfkunst stets vom Daoismus geprägt. Diese pragmatische und vor allem wissenschaftliche Lehre durchzog alle Bereiche und ist ebenfalls in Sunzis Werk erkennbar. Das erklärt am besten die Ausgewogenheit seiner Strategien und Taktiken.
Der zweite Teil des Wortes wushu wird durch das Zeichen shu (术 oder 術) dargestellt. Shu bedeutet Kunst, Kunstfertigkeit. Der Begriff beinhaltet aber auch Taktik und die technischen Aspekte der Kampfkunst. Dieses Zeichen enthält keine tiefgründigeren Inhalte. Es ist ein vollkommen rationaler und fassbarer Begriff. Es geht nur um das reine Können. Deshalb hat der Begriff shu auch etwas mit gongfu (功夫) zu tun, denn gongfu bedeutet ebenfalls Können. So erklärt sich die alte Bezeichnung wugong für die chinesischen Kampfkünste. Auf den darin enthaltenen Begriff gong soll weiter hinten im Buch ausführlicher eingegangen werden.
Vor 1949 benutzte man für Kampfkunst auch den Begriff wuji. Das Schriftzeichen wu wurde ausführlich erklärt. Das Zeichen ji (击) hat eine sehr kriegerische Bedeutung. Es bedeutet attackieren oder zusammenprallen. Hieran erkennt man, worum es ursprünglich in der chinesischen Kampfkunst geht. Shu verweist hingegen auf eine künstlerische, teilweise auf Schönheit und Eleganz bedachte Anwendung. Dies ist vergleichbar mit den japanischen Kampfkunstbegriffen jutsu (術) und do (道). Während jutsu die anwendbare Technik bezeichnet, beinhaltet do, der Weg, das dahinterstehende philosophische Prinzip.
Ein anderer Begriff für chinesische Kampfkunst ist guocui. Guocui bedeutet »Essenz der chinesischen Kultur«. Man hat die chinesische Kampfkunst früher und auch heute noch stets als Essenz der nationalen Kultur verstanden. Dies hat jedoch nichts mit nationalistischem Gedankengut zu tun. Die Bezeichnung guocui geht viel mehr in die Tiefe. Am ehesten lässt sich der Begriff mit der symbolischen Bedeutung von Kronjuwelen vergleichen. Neben wushu werden auch andere Künste Chinas als guocui bezeichnet. Dazu gehören die Chinesische Oper, traditioneller Tanz und Musik und auch die Kalligraphie. Ursprünglich bildeten wushu, traditioneller Tanz und Kalligraphie eine Einheit. So kann man beispielsweise einige gemeinsame Elemente und Bewegungen erkennen, die sowohl in der klassischen Oper, im wushu, als auch in den traditionellen Tänzen enthalten sind. Auch die klassische chinesische Musik steht in enger Verbindung mit dem wushu; ein guter Rhythmus in der Musik ist genauso wichtig wie ein guter Rhythmus im Kampf. Synonym zu guocui wurde früher ebenfalls der Begriff guoshu (国术, Landeskunst) gebraucht.
Zwei weitere Begriffe, die in alter Zeit in China die Kampfkunst bezeichneten, waren wuyi (武艺) und shoubo (手搏). In vielen alten Büchern über die Kampfkunst wird man auf diese beiden Bezeichnungen stoßen. Der Begriff wuyi ist mit dem Begriff wushu verwandt. Yi (艺) bedeutet Kunst. Die Bezeichnung shoubo wird heute nicht mehr benutzt. Anstelle dessen verwendet man den Begriff quanfa (拳法), was soviel wie »Methode bzw. Gesetz der Faust« bedeutet. Quanfa und shoubo haben fast die gleiche Bedeutung. Allerdings ist shoubo eher ein militärischer Begriff. Früher war die Kampfkunst fester Bestandteil der militärischen Ausbildung. Sie war ein untrennbarer Teil des Krieges zu einer Zeit, als es noch keine Feuerwaffen gab. Shoubo bezeichnet den waffenlosen Zweikampf, der Hauptteil der Ausbildung der chinesischen Soldaten im alten China war.
Stilrichtungen und Schulen des Wushu
Eine große Vielfalt gibt es auch bei der Benennung der Kampfstile. Die einzelnen Schulen der chinesischen Kampfkunst