Wu. Frank Rudolph
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Die Unsitte, sich über moderne und klassische Kunst zu streiten, ist merkwürdigerweise nur in den modernen Kampfkünsten so verbreitet, und die Vertreter der jeweiligen Richtungen bekommen sich darüber regelmäßig in die Haare. Im Fall des wushu ist das nicht anders. Dabei besteht überhaupt keinen Grund für diese Diskussionen. Es gibt genau genommen nur ein wushu. Dieses beinhaltet zwar verschiedene Kampfstile und Übungsmethoden, aber über das wesentliche Element, den Kampf, herrschen überall ähnliche Ansichten. Das heutige wushu, welches als modern bezeichnet wird, ist ein Turnier- und Wettkampfsport. Ich teile die Sicht sämtlicher alten Lehrer und Meister, die ich traf, daß diese Sportlinie nicht als wushu bezeichnet werden sollte, da sie damit nichts oder nicht mehr viel gemein hat. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet gibt es nur ein einziges authentisches wushu.
Nach der Gründung der Volksrepublik im Jahre 1949, besonders aber während der so überflüssigen Kulturrevolution11, wurden nahezu alle Richtungen der chinesischen Kampfkunst einer Umwandlung unterzogen, die einer Verstümmelung gleichkam. Nur wenige Stile konnten sich dem entziehen. Manche Meister verließen das Land, andere nahmen ihr Wissen mit ins Grab.
Dabei hatten die Chinesen zunächst einen sehr guten Weg gefunden. Sie haben viele Bestandteile aus der Epoche der Blankwaffen, Lanzen, Keulen, Schwerter und verschiedene Fauststile in Formenwettkämpfe und Shows einfließen lassen. Ende der 1960er und Anfang der 70er Jahre achtete man dabei noch auf Sinn und Anwendbarkeit, man hatte Respekt vor der Überlieferung. Es kann sehr viel Spaß machen, einem Meister, der diese Dinge beherrscht, beim Training zuzuschauen. Die Vorführenden waren teilweise noch nach den eigentlichen Prinzipien der Kampfkünste ausgebildet worden, und so war in den Formen noch das Wesen der Kriegskunst zu erkennen. Mit der Zeit änderte sich das, und dieser Wandel hält bis heute an. Viele Faktoren waren dafür verantwortlich – das neue Denken während der Kulturrevolution, allzu konservative Meister, das Einmischen von Ahnungslosen (was heute besonders schlimm ist) und die Naivität der Jugend. Jedenfalls entstanden in den letzten dreißig Jahren völlig neue Bewegungsmuster ohne irgendwelche Kampfprinzipien. Das ist es, was man unter dem modernen wushu versteht.
Was man gegenwärtig bei öffentlichen Vorführungen zu sehen bekommt, sind im allgemeinen Fragmente aus alten und bereits mehrmals veränderten Stilen des wushu. Diese Art des »Tanzes« genießt kaum mehr die Achtung und die Aufmerksamkeit des chinesischen Volkes. Die Formenturniere haben so gut wie keine Besucher. Oft sind Trainer und Verwandte der Teilnehmer die einzigen Zuschauer.
Anfang der 80er Jahre wurde das sanda aus dem Druck heraus geschaffen, auf der Wettkampfbühne mit anderen Kampfsportarten mithalten zu können.
Die chinesische Kampfkunst eignet sich ihrem Wesen nach nicht dazu, aus ihr ein faires und international funktionierendes und vor allem olympiataugliches Wettkampfsystem mit einheitlichen Bewertungsmaßstäben zu konstruieren. Die Essenz dieser Kampfkunst ist das gongfu, und das ist eben nicht als Wettkampfsport einsetzbar. Gongfu ist ein Begriff, der die Zeit und den Aufwand, den man benötigt, etwas zu erreichen, umfasst und auch die Hingabe an eine Sache. Das sanda (散打), also die chinesische Art des Vollkontaktkampfes, versucht hier eine Brücke zu schlagen. Dabei wurde sanda hauptsächlich dem westlichen Kickboxen entlehnt und lediglich etwas mit dem chinesischen Ringen (shuaijiao, 摔跤) vermischt.
Foto 3: Sanda-Kampf auf einem Hochhausdach in Wuhan.
So kann also auch das sanda dem wushu nicht gerecht werden. Das sanda (oder auch sanshou) ist nicht die praktische Anwendung des wushu. Nur ein Teil dieser Disziplin entstammt dem alten wushu. Andernfalls würden die Techniken und Kraftprinzipien der typischen Wushu-Stile, wie zum Beispiel tanglangquan (螳螂拳), Adlerstil (鷹爪派), Betrunkene Faust (醉拳), Affenstil (猴拳), Tigerstil (虎拳) usw. vollkommen zur Anwendung kommen. Das ist aber nicht der Fall, und es ist auch gar nicht möglich, nicht zuletzt deswegen, weil viele Techniken mit Boxhandschuhen nicht ausführbar sind. Sanda ist ohne Frage eine großartige und harte Vollkontaktsportart, aber wie schon gesagt, der Ursprung liegt eher im Kickboxen oder auch im Vollkontaktkarate. Würde man das Kickboxen mit westlichem Ringen mischen, käme etwas Ähnliches heraus, vielleicht besser, vielleicht schlechter. Aus diesem Grund werden sanda und wushu heute auch überall getrennt, egal ob an Sportuniversitäten oder im professionellen staatlichen Verband.
Wen Jingming – der erste Wushu-Professor
Wenn wir hier über modernes wushu sprechen, müssen wir auf jeden Fall einen Mann erwähnen: Wen Jingming (温敬铭), den ersten Wushu-Professor Chinas. Als bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin erstmals eine chinesische Delegation zu Gast war, übernahm er die Führung. Er war damit einer der ersten Chinesen, wenn nicht der erste, der wushu im Westen demonstrierte. Ich möchte hier anmerken, dass Wen Jingming ein ausgezeichneter Meister war. Doch nicht zuletzt sein Wirken führte in der Folge zur Herausbildung des modernen wushu, auch wenn letzteres nicht von ihm stammt, sondern eher das Produkt der phantasievollen Ideen der heutigen »jungen Hüpfer« ist. Meister Wen Jingming wohnte später in Wuhan, wo sein Sohn (Wen Zhuang) heute der Cheftrainer des Sanda-Provinzteams ist. Er führte wushu an den Universitäten ein. Übrigens lebt auch seine Frau heute noch in Wuhan. Sie ist über 90 Jahre alt und ebenfalls eine Meisterin im wushu.
Ich möchte einen Vergleich zum Karate (空手) ziehen, in welchem Funakoshi Gichin (船越 義珍) eine neue Ära der alten okinawanischen Kampfkunst einleitete. Eigentlich begann diese Veränderung schon früher. Hauptsächlich war es einer der Meister Funakoshis, Itosu Anko12, der kampfstarke Meister des okinawa-te, welcher die Änderungen an der Lehre vornahm. Er formte die fünf pinan-kata (五平安形), teilte andere Formen und ersetzte viele gefährliche Elemente durch weniger aggressive. Seine Einflussnahme und später Funakoshis Wirken in der Öffentlichkeit haben in der Folge dazu geführt, dass aus der effektiven Kampfkunst ein Sport wurde. Ob sich diese Änderungen letztlich im Sinne der Meister auswirkten, kann nicht mehr beantwortet werden.
Wushu und die chinesische Oper
Die Natur des wushu ist baofali (爆发力), explodierende Kraft, Effektivität und Anwendbarkeit. Will man diese Natur verändern, entzieht man dem wushu seine Existenzberechtigung. Das ist nicht übertrieben, denn wushu bleibt nur es selbst, wenn das baofali gewährleistet bleibt. Der Sohn von Meister Zhang Kejian (张克俭) unterrichtete einst einen Kampfsportler, einen Formen-Champion von China, in traditionellen Formen. Das Ergebnis war jämmerlich. Der Sportler verwandelte jede Bewegung in eine Liang-xiang-Bewegung (Showbewegung), da ihm diese bereits in Fleisch und Blut übergegangen waren. Dadurch verfälschte sich der ganze Sinn der Technik, und die Formen wirkten, abgesehen davon, dass die Elemente nicht mehr anwendbar waren, regelrecht hässlich.
Bereits während der Kulturrevolution kam die Idee auf, wushu mit Elementen der chinesischen Oper zu mischen. Was damals begann, hält bis heute an und treibt bisweilen bizarre Blüten. Momentan werden noch andere Elemente in die chinesischen Formen eingebaut, Bewegungen aus dem Turnen zum Beispiel, und das sieht man den Formen dann natürlich auch an. Ein Element, das man heute sehr häufig findet, ist eine schnelle Kopfdrehung bei gleichzeitiger anmutiger Handbewegung. Diese Technik ist ein typisches Merkmal der chinesischen Oper. Keiner der Lehrer meines Meisters vollführte jemals solche Bewegungen.
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