Wu. Frank Rudolph
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Während meiner Zeit in China konnte ich mit einigen der besten Sportler trainieren, alles Profis im wushu und im sanda. Das nanquan (Südfaust), das ich dort übte, ist im heutigen wushu das Beste. Üblicherweise ging das so vor sich: Ich zog durch die Straßen von Wuhan und trainierte früh bei Meister Tian Chuanqing (田传青) traditionelles zuibaxian (Boxen der acht betrunkenen Unsterblichen). Danach erhielt ich bei Meister Li die nächste Lektion. Im staatlichen Wushu-Verband folgte eine weitere Runde und abends, hinterm Restaurant, noch eine Einheit. So lernte ich gleichzeitig das Alte und das Neue kennen.
Ich will den Unterschied zwischen der heutigen Ausführung der Techniken und dem ursprünglichen Sinn des wushu anhand des Beispiels der Bewegungsfolge xuan feng jiao (旋风脚) darstellen. Das ist ein Drehsprung in der Luft. Die ursprüngliche Technik ist, wenn man sie beherrscht, ohne Frage kampftauglich. Meister Chen Chongxi (陈重昔) erklärte die eigentliche Bedeutung und Anwendung sehr gut: »Als Vorbereitung schlägt man zwei schnelle Handkanten, während man in den Gegner hineingeht. Dann sinkt man in eine leichte Hocke und springt mit einer Drehung den Gegner an. Dabei versucht man, ihn am Hinterkopf zu treffen, was tödlich sein kann. Bei größerem Abstand trifft man mit dem Fuß, bei enger Distanz trifft man mit dem Knie. Ein kleinerer Kämpfer kann diese Technik an einem größeren Gegner einsetzen.«
Im heutigen wushu sieht diese Technik dagegen etwa so aus: Man läuft ohne irgendwelche Vorbereitung mit vier Schritten an, springt ab, dreht sich möglichst zweimal in der Luft und landet in einem theatralischen Stand. Ohne zu wackeln, versteht sich, sonst gibt es Punktabzug. Jeder Gegner würde sich über einen derartig leichtsinnigen Angriff freuen. Während man bei der klassischen Variante das eine Knie eng an den Körper zieht, um eine dynamische Kraft aufzubauen – worauf es nun einmal ankommt –, springt man bei der modernen Version ohne Eigenschutz wie ein Eiskunstläufer in die Höhe. Dieser Vergleich ist durchaus angebracht, da man in beiden Fällen ein ähnliches Ziel hat: Ästhetik. Der Kraftaufbau und die Kraftübertragung, der Sinn der Technik und deren Nutzen werden beim »neuen« wushu vollkommen ignoriert. Speziell bei dieser Technik geht es nur noch um den Sprung. Die Techniken zwischendurch sind erfundene Verzierungen.
Auch in anderen Kampfkünsten wurden Technik verändert, weil man meinte, man müsse sie der modernen Zeit anpassen. Im Karate gibt es beispielsweise die Technik age uke (jpn. 上げ受け), einen Block, der das Gesicht abdecken soll. Heute wird diese Technik weit weg vom Kopf ausgeführt (Foto 4). Warum? Das weiß keiner so genau. Tatsache ist, dass die analoge Technik in ziemlich vielen chinesischen Kampfkünsten enthalten ist, so z. B. im baji (八極拳), im tanglang und im tongbei (通背拳). Hier wird die Technik jedoch eng und knapp am Kopf ausgeführt und die Bewegung wird nicht so langgezogen. Gegnerische Attacken zum Kopf können so kurz und knapp abgewehrt werden (Fotos 5 bis 8).
Foto 4: So wird der age uke heute auf stereotype Weise in vielen Stilen des Karate oder des wushu trainiert.
Foto 5
Foto 6
Fotos 5 und 6: Tatsächlich lässt man den gegnerischen Angriff abgleiten. Die Technik funktioniert wie ein Keil, den man in den Angriff hineinsetzt und an dem man die Kraft ableitet.
Dehnung und Stand im alten und neuen Wushu
Ein weiterer Aspekt, an dem man die Abflachung des heutigen wushu deutlich erkennen kann, ist die ursprünglich entwickelte Dehnung. Die Übung, bei der man mit seinem Fuß die Kinnspitze berührt (Foto 9), ist typisch chinesisch. Zwar muss man dabei die Körperproportionen betrachten, aber innerhalb dieser Grenzen gibt es ein Richtig und ein Falsch. Die Chinesen sind durch ihren Körperbau für diese Dehnung in der Regel etwas besser geeignet als Europäer und können diese deshalb leichter durchführen.
Foto 7
Foto 8
Fotos 7 und 8: Die Bewegung des age uke als aktiver Angriff oder als Abwehr und Angriff zugleich.
Ursprünglich dehnten die Meister sich eng. Cheng Jianping (程剑 平), mein älterer Wushu-Bruder, ist Jahrgang 1962, und bis vor kurzem klemmte er sich seine Füße noch spielend unter das Kinn. Meister Tian Chuanqing, mein erster Zuibaxian-Lehrer, ist über 50 und berührt mit seinen Füßen problemlos die Nase, obwohl er sehr kurze Beine hat und recht breit gebaut ist. Diese Männer haben ihr Leben lang bei Meistern erster Klasse trainiert, von Kindesbeinen an.
Foto 9: Traditionelle chinesische Dehnung.
Im allgemeinen sind die Chinesen heute schlechter gedehnt als früher. Die Wushu-Profisportler haben nicht mal eine halb so gute Dehnung wie Cheng Jianping und das, obwohl sie meist etwa zwanzig Jahre alt und durchtrainierte Athleten sind. Das Bein wird nicht mehr eng, sondern lang gedehnt, so wie in der Gymnastik.17 Der Grund dafür ist, dass enge Dehnung die Muskeln stärkt und zuviel Kraft entstehen lässt, so dass man sich während einer Vorführung nicht mehr ästhetisch genug bewegen kann. Ursprünglich ging es jedoch nicht um Ästhetik, sondern um Kraft. Doch auch, wenn nach meiner Erfahrung die chinesische Art der Dehnung die beste der Welt ist, ist sie natürlich nicht alles. Sie ist eine wichtige Grundlage, aber sie sagt noch nichts über die Kampfqualität aus.
Einher mit dem Gesagten geht ein weiterer Punkt, die Stellungen. Zu den wichtigsten Stellungen und Schritten (bufa, 步法) zählen der gongbu (弓步, Bogenstand, jpn. zenkutsu dachi 前屈立) und der mabu (马步, Pferdestand, jpn. shiko dachi 四股立). Studiert man den heutigen mabu, so ist daran keine Unregelmäßigkeit festzustellen. Das ist nicht als Lob gemeint. Die Haltung ist eindeutig auf Schönheit und Ästhetik hin ausgelegt. Die Füße sollen parallel stehen, der Stand muss sich mit dem Körper und den Händen harmonisch ausbalancieren. Auf Chinesisch sagt man dazu liang xiang (亮象, Showform).
Betrachtet man alte Gemälde und Kunstwerke mit Darstellungen von Kämpfern, sieht man einen ganz anderen mabu, eine Haltung, die auf Stabilität und Anwendbarkeit ausgerichtet ist. Als ich einmal mit Meister Li unterwegs war, sahen wir eine Abbildung in Stein, auf der alte Kämpfer (xiake, 侠客) dargestellt waren. Mein Lehrer wies mich auf den Stand der Figuren hin. Ihre mabu und gongbu waren bei weitem nicht so elegant, wie man das heute erwartet, doch sie drückten ganz deutlich Kraft und Stabilität aus.
Foto 10: Moderner gongbu. Er ist viel zu lang und wird dadurch kraftlos und instabil.
Foto 11: Meister Li Yuanchao im »echten« gongbu. Er war ein Schüler