Wu. Frank Rudolph
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Sie antworte: »Ich schleife eine Nadel aus dieser Stange.«
Ungläubig wollte der junge Mann wissen: »Wie kannst du aus diesem Eisen eine Nadel schleifen?«
Darauf meinte sie: »Indem ich geduldig schleife und schleife.«
Das leuchtete dem Prinzen ein und er kehrte um. Die alte Frau aber verwandelte sich in eine purpurne Wolke und verschwand.
Die zweite Erzählung entstammt der Sammlung des Zhuangzi28. Sie ist, wie die Anekdote um Menzel, eher eine Parabel. Eine Parabel mit mehreren Bedeutungen. Sie erläutert gongfu über einen Umweg und lässt einen begreifen, weshalb es oft falsch verstanden wird.
Der alte Wagenradhersteller
Der Beamte Han Gong war in der Lesehalle und studierte, während Lun Bian außerhalb der Halle Wagenräder anfertigte. Nach einer Weile betrat Lun Bian den Raum und fragte Han Gong: »Ist der weise Mann, der die Bücher macht, noch hier?«
Han Gong antwortete ihm, dass dieser schon vor langer Zeit gestorben sei.
Daraufhin sagte Lun Bian: »Nun, dann sind doch all die Bücher, die du hier liest, nur der Abfall toter Menschen und haben keinen Wert.«
Als der Beamte das hörte, sprang er wie von einer Wespe gestochen auf und rief erregt: »Was sagst du da? Sag mir, wie du deine frechen Worte begründen willst! Wenn du weiter solchen Unsinn redest, werde ich dich hinrichten lassen.«
Lun Bian fiel sofort vor ihm auf die Knie und sagte: »Ich bin nur ein einfacher Wagenradhersteller und verstehe nicht viel. Deswegen lass mich die Wagenradherstellung als Vergleich heranziehen, um zu zeigen, dass meine Worte richtig sind. – Wenn ich ein Wagenrad herstelle und sehr schnell mit Hammer und Meißel arbeite, dann spare ich Zeit und Energie, aber das Rad wird nicht rund sein. Wenn ich jedoch sehr langsam mit meinem Werkzeug bin, dann wird das Rad zwar eine vollkommen runde Form haben, aber ich vergeude viel Zeit und Kraft. Die beste Methode, ein Wagenrad herzustellen, ist, nicht zu schnell und nicht zu langsam zu sein und das Gefühl für den richtigen Krafteinsatz zu haben. Ich bin schon 70 Jahre alt, und ich mache immer noch Wagenräder. Aber das Gefühl des richtigen Krafteinsatzes bei der Wagenradherstellung kann ich nicht an meinen Sohn weitergeben. So kann auch nicht die Weisheit und Klugheit, die ein Weiser erreicht hat, durch Bücher an uns weitergegeben werden. Ist das nicht offensichtlich? Und sind die Bücher, die du liest, denn wirklich etwas anderes als der Abfall von Toten?«
Ein Handwerker kann nur die grundlegenden Regeln vermitteln, kaum aber sein Gefühl für den richtigen Einsatz der Werkzeuge und der Kraft. Der Meister der Kampfkunst kann nur die Grundlagen und Formen lehren, aber nicht seine Fähigkeiten und Erfahrungen. Die Studierenden und Gelehrten glauben, dass das Verstehen des geschriebenen Wortes in den Büchern von größtem Wert ist. Viel wichtiger und wertvoller ist es aber, das Ungeschriebene zu verstehen. Wir nennen dies das »Lesen zwischen den Zeilen«. Leute, die Bücher lesen und sich Bücherwissen aneignen können, sind nicht zwangsläufig auch fähig, wirklich etwas zu verstehen.
Clausewitz29 schrieb, dass bei der Kunst das Können der Zweck sei. Können jedoch ist ausschließlich durch praktisches Lernen und Üben erwerbbar, ein Buch kann es nicht vermitteln. Können aber ist das, was die Kampfkunst – und gongfu – letztendlich ausmacht. Wissen hingegen kann durch ein Buch vermittelt werden. Aus diesem Grund erwähne ich in dieser Arbeit immer wieder die wissenschaftlichen Aspekte der Kampfkunst, sozusagen die Darstellung der Kampfkunst als Kampfwissenschaft. Bei der Wissenschaft geht es nur um das Wissen. Wissen und Können sind zwei Komponenten, die zusammenhängen können und sollten, aber nicht müssen.
Die zweite Bedeutung von Gongfu
Bei der Mehrschichtigkeit der chinesischen Sprache wundert es sicher niemanden, dass es noch andere, tiefgreifende Bedeutungen des Wortes gong (fu) gibt. Eine dieser Bedeutungen wird durch folgendes Sprichwort gut erläutert: »Lian wu bu lian gong, dao lao yi chang kong« (练武不练功, 到 老一场空). –»Trainiert man Kampfkunst, aber kein gong, bekommt man im Alter gesundheitliche Probleme und hat trotz des Trainings nichts erreicht.« In diesem Fall bezeichnet gong (fu) eine Trainingsmethodik, das heißt Gong-Trainingsmethoden und -Übungen.
In der zweitausendjährigen Geschichte der chinesischen Kampfkünste wurden diese Übungen nach und nach entwickelt, indem man den Körper und die Natur genau beobachtete. Diese Übungen sind keineswegs mysteriös. Alles kann wissenschaftlich begründet werden und hat nur mit einem ausdauernden Training voller Hingabe zu tun. Es sind Methoden für die Gesundheit und für den Kraftaufbau. Inzwischen sind allerdings die meisten Gong-Übungen ausgestorben. Es gibt aber immer noch sehr viele davon. Auch das im Westen sehr bekannte taiji ist als eine Art Gong-Übung zu betrachten.
Die im Westen verbreitete Devise »Brust raus, Bauch rein« gilt in Asien seit jeher genau umgekehrt. Das geht soweit, dass selbst die Mode als Spiegel verschiedenster Philosophien über die Jahrhunderte hinweg hierdurch beeinflusst war und es noch immer ist. Das typische Merkmal von eigentlich fast allen Gong-Grundübungen ist die natürlich zurückgezogene Brust, wobei der Oberkörper eine leicht gekrümmte Form einnimmt. In dieser Stellung wird das Herz in eine Lage gebracht, die sehr beruhigend auf es wirkt. Auf Chinesisch sagt man dazu baoxin (包心). Das Herz wird »eingewickelt« und dadurch in eine Position gebracht, die sich auf den ganzen Körper positiv auswirkt (yangxin, 养心). Das Herz wird genährt und gepflegt. In dieser Haltung ist der Körper locker und entspannt, jedoch nicht schlaff. Alles soll vollkommen natürlich (shenxin ziran, 身心自然) geschehen. Gerade diese Natürlichkeit ist für einen Erwachsenen schwer umzusetzen. Irgendwann zwischen Kindheit und Reife verlieren wir diesen Zustand, ohne dass wir es bemerken. Daher stellen wir uns oft sehr verkrampft an, wenn wir versuchen, eine natürliche Haltung einzunehmen.
Foto 13: Die Embryohaltung. Diese Position ist ähnlich der Haltung eines Embryos im Mutterleib. Diese Haltung wird in den chinesischen Kampfkünsten sowohl in Gong-Übungen als auch in Pausen während des harten Trainings eingenommen, damit der Körper sich ausruhen und regulieren kann.
Das zweite Merkmal bei solchen Übungen ist die Bauchatmung. Auf Chinesisch sagt man: »Qi chen dan tian« (气沉丹田). –»Die Atmung wird in den dantian niedergedrückt.« Was ist unter dem Begriff dantian (jpn. hara) zu verstehen? Der dantian liegt etwas unterhalb des Bauchnabels, wobei die genaue Lokalisierung nicht einheitlich festgelegt ist. Er ist kein tatsächlich existierendes Organ. Dantian heißt wörtlich Zinnoberfeld und bezeichnet den Unterbauch, sprich den Körpermittelpunkt des Menschen. Wie man auch aus der westlichen Sportwissenschaft weiß, geht wirklich große und wirkungsvolle Kraft vom Zentrum des Körpers aus. Egal ob man boxt, läuft, Weitwurf oder Weitsprung etc. betreibt, bei all diesen Disziplinen ist eine Kraft vom Zentrum des Körpers notwendig, um wirklich effektiv zu sein. Und bei den Spitzenathleten in diesen Disziplinen ist diese auch vorhanden, wobei einige die damit verbundene Energie eher unbewusst durch ihr Training erwarben.
Im asiatischen Raum, speziell im