Verdorbene Jugend. Horst Riemenschneider
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Als erstes erklärte uns der Lehrausbilder die Grundbegriffe des Feilens und zeigte, wie es gemacht wird. Für jeden lag ein U-Stahlstück bereit. Das wurde mit den Schenkelenden nach oben quer in den Schraubstock gespannt. Die Feile sollte gleichmäßig über die beiden Schenkelenden mit dem entsprechenden Druck geführt werden. Ein allgemeines Fietschen begann und wurde fast unerträglich, bis die Lehrausbilder uns erklärten, dass die U-Stahlstücke tiefer gespannt werden müssten. Laufend wurden unsere Übungen von den Ausbildern überprüft und korrigiert. Bald war es Mittag geworden und unser Weg führte über den Waschraum zum Speisesaal.
Schon im Anschreiben für die Anreise war uns mitgeteilt worden, wie viel Geld für welche Zwecke wir mitbringen sollten. Das waren Gelder für die Arbeitsanzüge, die Schulbücher und letztlich auch für Essenmarken zum Mittagessen. Das Essen kostete 60 Reichspfennige, für uns Lehrlinge die Hälfte.
Frühstück und Mittagessen wurde in zwei Schichten eingenommen. Das erste Lehrjahr war immer in der zweiten Schicht. Im Speisesaal hatte jede Gruppe ihre festgelegten Plätze. Die Gruppen saßen in mehreren Längsreihen. Am Ausgang zur Betriebsberufsschule stand eine Tischreihe quer vor den Stirnseiten der anderen Tischreihen, an welcher der Betriebsleiter der Berufsausbildung, der noch nicht vorhandene und erwartete Abteilungsleiter, Meister Dietz und der Berufsschulleiter Dr. Wacker sowie einige Lehrer ihre Frühstücks- und Mittagspausen verbrachten. Unsere Plätze waren am seitlichen Gang an einer Faltwand. Die Lehrausbilder saßen bei ihren Gruppen an den Plätzen, die der Querreihe mit den höheren Herren am nächsten waren. Die Essenausgabe war gleich links, wenn man von der Lehrwerkstatt in den Speiseraum trat.
Die Mittagspause dauerte eine halbe Stunde und die Frühstückspause 15 Minuten. Fünf Minuten vor dem Ende jeder Pause ertönte ein Pipszeichen, wonach man sich umgehend an seinen Arbeitsplatz zu begeben hatte. Zum Händewaschen vor jeder Pause durften wir dafür etwa fünf Minuten früher gehen. Die Werkstattuhr hing an der Wand am Meistersitz. Diese Wand trennte die Lehrwerkstatt von dem großen Festsaal. Nach dem Mittagessen fietschten wir noch eine gute Stunde weiter. Auf einmal ertönte ein Pfiff mit einer Trillerpfeife. Der Lehrausbilder vom Dienst rief: „Werkstücke ausspannen, Werkzeuge einpacken und Werkbänke abkehren!“
Wir hatten jeder einen großen und vollen Werkzeugkasten unter der Werkbank, in den zwanzig Feilen der verschiedensten Längen und Profile auf dem Kastenboden einsortiert waren. In einem angeschraubten Winkeleisen war für jede Feile eine Aussparung, in welche die entsprechende Feile zwischen Heft und Angel hinein passte. Darüber waren zwei Schübe. Im oberen Schub waren die Messzeuge in grün ausgepolsterten Vertiefungen und im unteren Hammer, Meißel, Körner, Reißnadel und weitere Dinge. Zwischen dem Werkbankfuß und dem Werkzeugkasten war ein kleiner Ölbehälter angebracht. Hinter dem Schraubstock war an einem erhöhten Rand ein Gestell für die technischen Zeichnungen. Bei der Erklärung hörte ich das erste mal das Wort „Technische Zeichnung“. Hinter dem Werkbankfuß unter dem Schraubstock hing ein Handfeger. Im unterem Schub im Werkzeugkasten hatte jeder noch eine Gewindebürste. Damit wurden die Werkstücke abgebürstet. Er war untersagt, Späne oder andere Anhaftungen von den Werkstücken zu pusten.
Der Lehrausbilder vom Dienst mahnte: „Fertigwerden!“ und pfiff kurz darauf mit seiner Trillerpfeife. Wir mussten antreten. Die rechten Flügelmänner standen nach dem „Käffterle“ unserer Lehrausbilder. Wir blickten in Richtung Bahnhof Heinrichs.
Das ging dann so: „Stillgestanden! – Richt Euch! – Augen gerade aus! – Zur Meldung die Augen links!“ – und er postierte sich vorm Lehrmeister Dietz und meldete, dass wir angetreten waren. Wir Neulinge aus dem Lehrlingsheim marschierten durch Heinrichs und die Sonne schien auf die Rücken unserer Vordermänner. Dann mussten wir die lange Treppe hochsteigen. Bei diesem Rückmarsch waren nun auch die dabei, die direkt zum Betrieb angereist waren. So wurden dann noch drei weitere Lehrlinge in die Stube eins einquartiert. Sie stammten alle drei aus Frankenhain in der Rhön. Das brachte nun mehr Leben in unsere Bude. Sie kannten sich und brauchten nicht zu testen, wie der eine oder der andere wohl reagieren würde. So schwafelten sie munter darauf los und wir standen außen vor. Dazu benutzten sie ihren Dialekt, der dem Suhler ähnlich war. Außerdem kannten wir die Probleme in ihrem Dorf nicht.
Einer von ihnen, Rudi Dietzel, wurde von Robert Kleingünter eingewiesen. Er meckerter, weil er zum Schlafen nun hochsteigen müsse. Auch wenn er sich so mal hinlegen wolle, müsse er immer hochklettern. Die anderen zwei mussten das noch freie Doppelbett beziehen. Unter ihnen war noch ein Dietzel, mit Vornamen Heinz. Der dritte im Bunde hieß Ernst Abbe. Die drei Frankenhainer waren „Anlernlehrlinge“ und hatten nur zwei Jahre Lehrzeit. Solche Berufe waren Dreher, Fräser und Hobler, Schweißer und Härter wohl auch.
Wie es weiter ging
Der nächste Tag begann im Heim wie der erste Tag. Robert tutete vier mal und es ging raus aus den Betten. Beim Marschieren konnte ich mich wieder ärgern, weil die Lieder zu tief angestimmt wurden. Ich hatte noch keinen Stimmbruch.
Heute ging es gleich zu den im Keller liegenden Umkleide- und Waschräumen, wo wir unsere Tasche im zugeordneten Spind ablegen konnten. Wir gingen nur mit der Brotbüchse nach oben. Die musste ja in das Fach im Rollschrank, der kurz vor sieben Uhr verschlossen wurde. Im Keller kam man so ohne weiteres auch nicht an sein Spind. Dazu musste erst der Schlüsselkasten durch den Lehrausbilder vom Dienst geöffnet werden, der dann gleich wieder verschlossen wurde, wenn der letzte Schlüssel wieder im Kasten war. Für jede Gruppe gab es einen Schlüsselkasten. Die waren in der Nähe der betreffenden Spindreihen angebracht. Wer zu spät kam, hatte ein Spießrutenlaufen zu überstehen.
In der Werkstatt, genau Lehrwerkstatt I, abgekürzt LW I, warteten wir an unseren Plätzen der Dinge die da kommen sollten. Fünf vor sieben hupte es. Es war also der Piepston zu vernehmen, der von Lautsprechern ausgestrahlt wurde. Über diese Lautsprecher konnten auch Durchsagen erfolgen oder Rundfunksendungen übertragen werden. Es erfolgte wieder ein Trillerpfiff mit der Aufforderung, anzutreten. Das hatte im Marsch-Marsch-Tempo zu erfolgen. In einer knappen Minute standen wir. Nach der Meldung an den Meister gab der seine Anweisungen. So war das dann jeden Morgen. Noch vorm Signal zum Arbeitsbeginn wurde weggetreten und man stand um sieben vor seinem Schraubstock. Nun konnten wir uns weiter an unseren U-Stählen auslassen. Wir erlernten Ausdauer und dazu zu schweigen. Die Schruppfeilen, die wir benutzen sollten, waren am Blatt um die 400 Millimeter in der Länge. Scharf war keine von ihnen, aber darum ging es auch nicht am Anfang. Das Führen der Feile war wichtig.
Nebenbei wurden Wege erledigt. So kam ich an diesem Tag das erste Mal in das Büro. Es lag eine Treppe tiefer. Der Weg dort hin führte über den Speisesaal zur Werkberufsschule. In dem dortigen Gang die erste Tür links war das Büro. Gleich hinter der Tür befand sich eine Barriere, die nicht gestattete, weiter in diesen Raum zu treten. Der Raum war so groß wie ein Klassenraum der darüber liegenden Berufsschule. Als Büro galt nur ein kleiner Teil dieses Raumes. Der Rest war auf den dazugehörigen Schreibtischen mit Zeichengeräten voll gestellt. Dort arbeiteten die ersten Technischen Zeichner, die ich erblicken durfte. Ich wusste es nicht genau. Ich ahnte es nur.
Unsere Gruppe feilte bis Mittag. Nach dem Mittag gingen wir in die Schule. Wir erfuhren, in welchen Fächern wir unterrichtet werden. Darunter war auch Technisches Zeichnen. Ich hatte ab diesem Tag im ersten Lehrjahr jeden Dienstag Berufsschule. Der Marsch ins Heim begann an diesem Tag später,